Merz' erste Regierungserklärung war eine Jahrhundertrede im Sinne von: sehr, sehr alt und schon tausendmal gehört. Die Linke und die AfD brachte der Kanzler damit trotzdem auf die Barrikaden - dafür reichten einige Sätze zu Israel, der Ukraine und der Bundeswehr.
Schon wieder eine Woche vorüber im politisch generalüberholten Premium-Deutschland. Ja, ja, die Zeit verfliegt, seit Friedrich Merz kürzlich per mittelmäßig triumphalem Abstimmungs-Ergebnis zum zehnten Bundeskanzler der Bundesrepublik gekürt wurde und anschließend ordentlich Themen-Tempo vorgelegt hat. Im Stundentakt werden wichtige Neuerungen verkündet und wegweisende Versprechungen gemacht, teilweise sogar außerhalb von Talkshows. Das Kabinett Merz agiert aktuell schneller, als Heidi Reichinnek "Antisemitismus" buchstabieren kann.
Regierungsfreundlich könnte man diese hyperthermische Aktionismus-Offensive so deuten, dass die neuen Machthaber unser schönes, aber gleichsam auch atmosphärisch gebeuteltes Land schnellstmöglich wieder auf Kurs bringen wollen. Möglichst einen, der nicht erneut in einem fulminant gescheiterten D-Day endet, von dem hinterher niemand etwas gewusst haben will. Schläft man nicht in Merz- oder Klingbeil-Bettwäsche, ist allerdings auch eine alternative Theorie denkbar. Etwa die, dass Merz versucht, durch altruistische Betriebsamkeit davon abzulenken, dass nach seinem Ergebnisfiasko im ersten Wahlgang einige Zirkumventionsdeals mit Grünen und Linken notwendig wurden, um am Ende doch eine fragile Kanzlermehrheit modellieren zu können.
Rund um das Regierungsviertel fragt man sich seither gelegentlich, wie groß das bundestagsinterne Gefallen-Schuldenpaket wohl ausgefallen ist, welches Merz in den kommenden Jahren mit Zins und Zinseszins an die verhasste grüne und linke Oppositions-Bank wird zurückzahlen müssen. Stellenweise munkelt man sogar, Merz hätte sich in seiner akuten "Ich muss Kanzler werden"-Neurose auf einen Kuhhandel eingelassen, bei dem nicht wie üblich Auerochsen gegen Auerochsen eingetauscht wurden, sondern Kobe-Rinder gegen Gammelfleisch. Wie genau er aussieht, ist unklar. Aber dass Katharina Dröge und Sören Pellmann für ihre Zustimmung zu einem sofortigen zweiten Kanzlerwahlgang vergangene Woche von Merz einige hochrangige Joker erhalten haben müssen, scheint sicherer als die Renten zu Norbert Blüms Zeiten.
Gender Postmann zweimal klingelt
Um den immerhin 28,5 Prozent der Deutschen, die der CDU/CSU im Februar ihre Stimme gegeben hatten, und insbesondere auch dem Rest der Nation glaubhaft zu veranschaulichen, er würde als Bundeskanzler zweifelsfrei noch besser performen als zuvor als Aufsichtsrat, Beirat oder Verwaltungsrat bei DBV-Winterthur, Alba, Commerzbank, IVG Immobilien, AXA, BASF, Borussia Dortmund, Deutsche Börse, Stadler Rail, Flughafen Köln/Bonn, WEPA, BlackRock und HSBC Trinkaus & Burkhardt, ließ Merz diese Woche auf den Kurskorrektur-Tsunami in den neu besetzten Ministerressorts nahtlos seine erste Regierungserklärung folgen.
Und die wurde, das muss man dem unbescholtenen Mittelständler aus Ostwestfalen lassen, eine Jahrhundertrede. Also, Jahrhundert jetzt im Sinne von "sehr, sehr alt und schon tausendmal gehört", nicht im Sinne von "einzigartig". Anbiederungen an die Arbeiterklasse, für die man formaljuristisch ohnehin die ehemalige Arbeiterpartei SPD als Juniorpartner rekrutiert hatte, wirken nämlich zumeist nur bedingt nachhaltig, wenn sie aus Polit-Poesiealben-Sprüchen wie "Leistung muss sich wieder lohnen!" bestehen. Da hätte Merz ja gleich "Wähle einen Beruf, den du liebst, und du brauchst keinen Tag mehr zu arbeiten" in die Hausaufgabenbücher des deutschen Michels und der deutschen Michelline diktieren können. Natürlich ohne Gendern, denn auch sein Parteifreund Christoph Ploß ist im Saal - und der gilt als Ehrenvorsitzender der SoKo "Genus" bei der Sprachpolizei Hamburg. Nichts hasst Ploß mehr als geschlechterbewussten Sprachgebrauch. Außer dem Tempolimit.
Mit 67 Jahren, da fängt das Berufsleben an ...
Den Höhepunkt seines kreativen Schaffens erreicht das Lyrische Ich des Neukanzlers dann ein paar Minuten und unzählige Plattitüden später an einem Punkt in seiner Rede, an dem er per Innovations-Vorstoß anregt, designierte Rentner könnten zu besonders charmanten Steuerkonditionen auch über ihr 67. Lebensjahr hinaus am Arbeitsplatz verweilen. Freiwillig, versteht sich, denn die CDU ist ja keine Verbotspartei. Und Merz selbst das beste Beispiel für erfolgreiches berufliches Wirken im Alter. Wenn er im Mai 2026 den ersten Jahrestag des renommiertesten Arbeitsverhältnisses seiner beruflichen Karriere feiert, wird er schon über 70 sein.
Um dieses Altersspektrum überhaupt zu erreichen, müsste sich Luke Hoß von der Linken, der jüngste Abgeordnete dieser Legislatur, noch fast 50 Jahre im Reichstag verdingen. Alternativ, um nicht erst ein halbes Jahrhundert auf bundesweite Aufmerksamkeit warten zu müssen, bleibt dem Bundestags-Nesthäkchen aber noch die Option des musikalischen Trickbetrugs: Er könnte sich angewöhnen, nur noch mit Cowboyhut, Stiefeln und Unterhemden aufzutreten, und mit Jan van Aken, dem Chef seiner Partei, ein Country-Duo gründen, das sie "TheBossHoß" nennen.
Aber genug von Popcowboy-Ambitionen aus der Bundestags-Kita. Kommen wir zurück zum empathischsten Kanzler seit Olaf Scholz. Der (also Merz, nicht Scholz) garniert sein Plädoyer für selbstbestimmte Alterszusatzarbeit in bewährter Arbeitskampfprosa mit einem Bonmot aus dem Zauberkasten für populäre Anbiederungs-Truismen: "Wer freiwillig mehr arbeitet, soll auch mehr Netto haben!" Potzblitz, denken da unisono alle Edelfedern der Politik-Ressorts vermutlich: Was für ein arbeitsrechtlich betrachtet progressiver Erdrutsch! Wo doch parteiübergreifend bislang stets Konsens war: Wer freiwillig mehr arbeitet, soll weniger Netto haben.
Friedrich Merz, der Prinz Hufeisenherz der Politik
Einige Minuten weiter im Redemanuskript wagt sich Merz dann sogar in internationale Gefilde. Hier wird es im Halbrund der Demokratie besonders hufeisig. Mit eindrücklicher Präzision gelingt es ihm, sich durch den Satz, die Bundesrepublik stehe "ohne Wenn und Aber an der Seite der Ukraine" einen amtlichen Zwischenruf-Tsunami aus dem Turbopatrioten-Blog der AfD einzufangen, nur um wenige Sekunden später per "Wir stehen unverbrüchlich an der Seite Israels" eine identische Reaktion vom gegenüberliegenden Rand zu aktivieren. Nämlich dem der selbst zertifizierten Antisemitismus-Forscher von der Linken. Fast scheint es, als wolle Empörungs-Dirigent Merz mit gezielt angeteaserten Buzzthemen einen Kanon der Entrüstungs-Eskalation provozieren, um nebenbei noch schnell die Debattenunfähigkeit der Extremparteien zu dokumentieren.
Virtuos zusammen führt er beide Lager anschließend mit der Ankündigung, die von ihm geführte Bundesregierung würde "zukünftig alle finanziellen Mittel zur Verfügung stellen, die die Bundeswehr braucht, um konventionell zur stärksten Armee Europas zu werden!" Nach diesem Satz zerschellen spektakulär die Überzeugungen vieler Hufeisentheorie-Antagonisten in Echtzeit, denn signifikante Investitionen in die Wehrfähigkeit und damit partiell auch in Waffen - da bekommen Team Alice Weidel und Team Ines Schwerdtner gleichzeitig Schnappatmung.
Durch dieses groteske Schauspiel der Selbstentlarvung diskreditieren sich nicht nur AfD und Linke für jede Koalitionsüberlegung der Zukunft, sondern es wird auch der Fokus der Wahrnehmung von einem interessanten Detail im Gedankengang von Friedrich Merz überschattet: Wenn die Bundeswehr konventionell zur stärksten Armee in Europa werden soll und "konventionell" landläufig als das Gegenteil von modern interpretiert wird, dann wird das ein recht günstiges Unterfangen für den Steuerzahler. Denn im "Das Gegenteil von modern sein" rangiert die Bundeswehr ja schon heute unumstritten in der Weltspitze.
No Habeck, No Cry!
Den Schlussakkord setzt Merz in seiner Dienstantrittsrede dann mit einer vollmundigen Ankündigung zum Finale: "Ich möchte, dass die Bürgerinnen und Bürger schon im Sommer spüren: Hier verändert sich etwas zum Besseren!" Ein gut gewählter Zeitpunkt, der Sommer, weil das leidige Streitthema Heizung in der warmen Jahreszeit eine eher untergeordnete Rolle spielt. Und das ist ja offensichtlich ein Fachbereich, bei dem das Inkompetenzteam Merz mit verblüffend übersichtlicher Expertise glänzt. Das ahnte man spätestens seit dem Bundestagswahlkampf, als sich die Antworten der Union auf die kolossalen Herausforderungen im Energiesektor im Prinzip auf "Hauptsache nicht Habeck" beschränkten.
Eine Regierungserklärung übrigens, das zum Abschluss noch schnell für alle Fitness-Influencer und andere, die sich für Bundespolitik erst interessieren, seit sie zufällig auf Tiktok erfahren haben, dass Merz kein Monat, Klingbeil keine Waffe, Amthor kein Treffpunkt und Bas kein Saiteninstrument ist, ist kein Tutorial, wie eine Regierung funktioniert, sondern eine Art Fahrplan für die zu erwartende Koalitionspolitik der kommenden Monate und Jahre. Und da wissen wir seit heute: Der Stoff für wöchentliche Schulterblicke in die Abgründe der Politikverdrossenheitskatalysatoren wird so schnell nicht ausgehen. In diesem Sinne: Bis nächsten Donnerstag!