Der Rückzug der USA aus der Verteidigung Europas nimmt immer konkretere Formen an. Die EU mobilisiert nun zwar Geld für die Verteidigung, bleibt aber gelähmt. Es ist an der Zeit, neue Wege einzuschlagen.
Wenn die USA die Ukraine aufgeben, überlassen sie das Überleben des Landes der EU. Die Sicherheit des Kontinents fällt damit endgültig in die Hände der Europäer. Diese neue Lage stellt uns vor eine reale Herausforderung, deren Ausmaße historisch sind: Die Aufgabe unserer Generation ist es, die verteidigungspolitische Kluft zwischen Europas Potenzial und seiner tatsächlichen Handlungsfähigkeit zu überwinden. Aus Brüssel sehe ich es deutlich: In den Gremien der EU wird unter den Regierungen viel diskutiert - zu viel. Die endlosen Debatten der 27 Mitgliedsstaaten wirken aus der Zeit gefallen, wenn es um unsere Sicherheit geht. Sie sind gut für die Legitimität. Sie sind schlecht für Ergebnisse. Der Moment verlangt ein europäisches Mindestmaß an Prozessen - und ein Maximum an Entschlossenheit.
Einen Aufschub können wir uns nicht leisten. Russland rüstet auf: verbal - das sehe ich in den russischen Staatsmedien, militärisch - das sehen unsere Nachrichtendienste. Sie warnen vor einer wachsenden militärischen Angriffslust des Kreml gegenüber der EU - nicht irgendwann, sondern in naher Zukunft. Wer jetzt auf Vertragsänderungen in Brüssel wartet, wird zu spät kommen.
Wir benötigen neue, schlanke Sicherheitsstrukturen parallel zu dem, was wir haben. An ihrer Spitze: ein Europäischer Sicherheitsrat als strategisches Entscheidungszentrum, das schnell, legitimiert und entschlossen handeln kann.
Drei strukturelle Prinzipien sind dabei leitend: Nicht die ganze EU. Nicht nur EU. Nicht ohne EU.
"Nicht die ganze EU" heißt: Nach innen brauchen wir ein Kerneuropa für Verteidigung. Nicht jedes EU-Mitglied muss mitmachen, nicht alle müssen zustimmen. Das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten ist Realität - bei der Verteidigungspolitik ist sie nun Notwendigkeit. Es muss möglich sein, einzelne Mitgliedstaaten auf diese Reise nicht mitzunehmen, wenn ihr Wille oder unser Vertrauen ihnen gegenüber fehlen. Wir müssen nicht auf den mit Putin sympathisierenden ungarischen Regierungschef Viktor Orbán warten, wenn er nicht will. Erst recht nicht, wenn er systematisch die Interessen der EU untergräbt.
"Nicht nur EU" bedeutet: Nach außen brauchen wir eine Öffnung in Richtung Koalition der Willigen. Auch Drittstaaten wie Großbritannien oder Norwegen sollten eingebunden werden, wenn sie bereit sind, ihre Ressourcen mit unseren zu bündeln. Europas Sicherheit endet nicht an der Außengrenze der EU.
"Nicht ohne EU" steht schließlich für die Anbindung an bestehende EU-Strukturen. Neue Formate dürfen nicht im institutionellen Vakuum schweben. Die PESCO-Plattform bietet eine ideale Andockstelle, weil hier bereits interessierte Mitgliedstaaten ihre Verteidigungsfähigkeit koordiniert vorantreiben. Aber auch der Militärstab (EUMS) oder die Nachrichtendienstliche Analyse und Berichterstattung der EU (INTCEN). Somit werden Synergien genutzt, statt neue Konkurrenzen zu schaffen.
Doch selbst diese Struktur nützt wenig, wenn sie nicht klug und stark geführt wird. Ein strategisches Entscheidungszentrum ist der Schlüssel für die Handlungsfähigkeit. Kein noch so großer Verteidigungshaushalt bringt uns Sicherheit, wenn Ressourcen nicht klug entwickelt und zielgerichtet eingesetzt werden.
Deshalb braucht Europa einen handlungsfähigen Sicherheitsrat - keine Debattierbühne, sondern ein Entscheidungskabinett für Ernstfälle. Die Vereinten Nationen haben es vor 80 Jahren vorgemacht: Der VN-Sicherheitsrat hat zu seinen Glanzzeiten wichtige Entscheidungen treffen und Führung zeigen können. Hieran könnte sich Europa orientieren.
Wie könnte er aussehen?
Gründungsmitglieder sollten sein: die Präsidentin des Europäischen Parlaments als Ausdruck parlamentarischer Kontrolle, je zwei Mitgliedstaaten mit den höchsten Verteidigungsausgaben in absoluten wie in relativen Zahlen, sowie ein Nicht-EU-Staat mit substanziellen Beiträgen. Doch der Sicherheitsrat soll nicht statisch besetzt bleiben. Alle zwei Jahre sollten die Mitglieder neu gewählt werden, etwa mit qualifizierter Mehrheit der Mitglieder des Willenbundes.
Warum? Weil wir im Gegensatz zur Nachkriegszeit im 20. Jahrhundert nicht mehr mit einer außenpolitischen Kontinuität der europäischen Regierungen rechnen dürfen. Es ist nicht ausgemacht, dass Frankreich in zwei Jahren noch dieselbe Verteidigungspolitik betreibt wie heute. Ein rotierender Sicherheitsrat würde Europas Reaktionsfähigkeit stärken und seine strategische Richtung sichern: Wer nicht mehr gemeinsam verteidigen will, soll bei Bedarf abgewählt werden.
Über genaue Entscheidungsbefugnisse kann man verhandeln. Jedenfalls sollte der Rat das Recht haben, bei Bedarf einen Verteidigungsfall auszurufen. Diese Feststellung kann als Rechtsgrundlage für nationale Mobilisierungen in den Mitgliedsstaaten und ihren Parlamenten sowie für gemeinsame Verteidigungsmaßnahmen dienen. Doch auch vorher soll der Sicherheitsrat und seine Arbeitsebenen etwa für gemeinsame Beschaffungen oder Koordination gemeinsamer Verteidigungs- und Industrieinitiativen dienen.
Zurzeit ist die Europäische Union global betrachtet ein schlafender Riese. Wirtschaftlich stehen wir an zweiter Stelle hinter den USA - als Markt- und Handelsmacht. Aber in der Verteidigungspolitik bleibt Europa trotz richtiger Rhetorik blockiert. Wir haben die Stärke, bringen sie aber nicht auf die Straße. Ein EU-Sicherheitsrat würde dafür sorgen, dass diese Stärke auch greift.