Terrorvorwürfe und Betätigungsverbot: Das Palästinenser-Hilfswerk der Vereinten Nationen steht gleich mehrfach unter Druck. In Berlin berichtet Leiter Lazzarini von massiven Geldproblemen - und dem "dystopischen Horror" in Gaza.
UN-Generalkommissar Philippe Lazzarini ist in doppelter Mission in Berlin: Er wirbt für das Überleben und zugleich für die Abschaffung seiner Organisation in der jetzigen Form. UNRWA, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge, wurde 1949 als temporäres Hilfsprogramm gegründet, bis zur Lösung der Palästina-Frage, dem Dreh- und Angelpunkt des Nahost-Konflikts. Seither betreibt UNRWA in den von Israel besetzten Gebieten Krankenhäuser und Schulen, leistet Nothilfe und betreut Flüchtlingslager, auch in Jordanien, dem Libanon und Syrien - Staaten, die in den vergangenen Jahrzehnten sehr darauf geachtet haben, am Flüchtlingsstatus der bei ihnen lebenden Palästinenser nichts zu ändern.
Heute ist der Nahost-Konflikt nicht nur weiterhin ungelöst, er war womöglich nie weiter von einer Lösung entfernt als jetzt. Und auch UNRWA erlebt aktuell die größte Krise seit seinem Bestehen. Vor der in der Bundespressekonferenz nur spärlich vertretenden deutschen Presse versucht Lazzarini darum einen Balanceakt: Als Chef der wohl am stärksten politisch aufgeladenen UN-Organisation politisch möglichst neutral aufzutreten.
Denn die Arbeit von URNWA ist abhängig von der Unterstützung der Geberländer und der Billigung Israels. Kritik muss im Ringen um jede diplomatische Tür sorgsam abgewogen werden. Den "dystopischen Horror" im Gazastreifen beschreibt Lazzarini im Passiv: "Eine eingesperrte und gefangene Bevölkerung wird bombardiert, belagert und ständig vertrieben. Mehr als 55.000 Menschen sollen getötet worden sein, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Zwei Millionen Menschen hungern, darunter eine Million Kinder."
"Gaza Erniedrigungs-Stiftung"
Lazzarini fordert einen Waffenstillstand, die bedingungslose Freilassung aller Geiseln und die Lieferung humanitärer Hilfsgüter in großem Umfang unter Führung der Vereinten Nationen. Israel hatte UNRWA die Lebensmittelverteilung in Gaza zunächst nicht mehr erlaubt und den Küstenstreifen dann monatelang komplett abgeriegelt. Ende Mai übernahm eine intransparent auftretende, private Organisation namens "Gaza Humanitarian Foundation" (GHF) die Aufgabe. An dieser Stelle ändert Lazzarini seinen Ton. "Gaza Humiliation Foundation" nennt er die Organisation, die mit Billigung der israelischen und der US-Regierung arbeitet, "Gaza Erniedrigungs-Stiftung".
Diese sei "nicht in der Lage, irgendeinen Nachschub nach Gaza zu bringen", sagt der UN-Kommissar. Schätzungsweise zehntausend Lastwagen stünden bereit. "Doch was in letzter Zeit reinkam, waren ein paar Lastwagen mit Mehl über das Welternährungsprogramm." Die GHF sei eine "Abscheulichkeit, die verzweifelte Menschen erniedrigt und herabwürdigt", sagt er. "Es ist eine Todesfalle, die mehr Leben kostet als rettet." An den Verteilzentren kommt es regelmäßig zu Chaos und Toten. Die palästinensischen Behörden werfen der israelischen Armee vor, auf Zivilisten zu feuern.
Lazzarini zufolge unterstützen UNRWA-Mitarbeiter die Bevölkerung in Gaza weiterhin in Bereichen der Gesundheitsversorgung, psychologischer Hilfe, Bildung oder Wasserversorgung. In Israel und im besetzten Ostjerusalem hat die israelische Regierung die Arbeit von UNRWA verboten und den Kontakt mit israelischen Behörden untersagt. Die Begründung: Mitarbeiter der Organisation seien am Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen. Nach einer Untersuchung entließ UNRWA im vergangenen Jahr neun Mitarbeiter.
Einstufung als "terroristische Vereinigung"
UNWRA beschäftigt zum allergrößten Teil palästinensische Ortskräfte und ist auf die lokalen Behörden angewiesen, die im Gazastreifen der Hamas unterstehen. Israel wirft dem UN-Hilfswerk eine strukturelle Unterwanderung durch die Hamas vor, im vergangenen Jahr wurde es vom israelischen Parlament zur "terroristischen Vereinigung" erklärt. Lazzarini spricht hingegen von einer Desinformationskampagne: "Anschuldigungen sind keine Beweise." Diese habe Israel bis heute nicht vorgelegt. Die Vorwürfe hätten das Leben von Mitarbeitenden ernsthaft gefährdet.
Das Mandat von UNRWA ist zwar dezidiert humanitär und politisch neutral, lässt sich aber nicht von dem politischen Ziel trennen, einen palästinensischen Staat oder zumindest eine palästinensische Selbstverwaltung zu schaffen. Auf dem Weg dorthin haben die UN das Hilfswerk nach der israelischen Unabhängigkeit und dem darauffolgenden Krieg als Übergangslösung eingerichtet - das Mandat wird seitdem alle drei Jahre verlängert. Auch Lazzarini spricht in Berlin mehrfach vom Ziel eines "Übergangs". Eine Zwei-Staaten-Lösung müsse wieder Wirklichkeit werden.
UNRWA steht damit einem erklärten Hauptziel der israelischen Regierung unter Benjamin Netanjahu entgegen: der Verhinderung eines Palästinenserstaates. Dass sich UNRWA mit den Jahrzehnten als quasi-staatlicher Akteur verfestigt hatte, war für Israel jedoch lange von Vorteil. Das Hilfswerk sorgte vor allem im besetzten Westjordanland für eine gewisse Stabilität und übernahm Aufgaben, die die Palästinische Autonomiebehörde nicht leisten konnte und zu denen Israel als Besatzungsmacht verpflichtet gewesen wäre.
"Annexion schreitet voran"
Ein stilles Abkommen, das auch im Westjordanland zunehmend aufgekündigt wird. Lazzarini beschreibt die Lage dort so: "Palästinenser wurden aus den Flüchtlingslagern im Norden vertrieben, wie es seit 1967 nicht mehr der Fall war. Die zivile Infrastruktur wird systematisch zerstört, sodass die Palästinenser nicht in ihre Häuser zurückkehren können."
Seit Ausbruch des Krieges zwischen Israel und dem Iran gebe es eine Art Lockdown für die Bevölkerung. "Unterdessen hält die Gewalt der Siedler auf alarmierendem Niveau an. Die Annexion des Westjordanlandes schreitet stetig voran und verstößt grob gegen das Völkerrecht." Das Kontaktverbot mit den israelischen Behörden führe dazu, dass UNRWA aus den palästinensischen Gebieten "faktisch vertrieben" werde.
Der Zusammenbruch von UNRWA droht Lazzarini zufolge aber aus einem anderen Grund: Es fehlt an Geld. Die Finanzierungslücke betrage etwa 200 Millionen US-Dollar bis zum Jahresende. Derzeit hangele man sich von Woche zu Woche. Allein für die Bezahlung von Mitarbeitern benötige man 60 Millionen Dollar pro Monat. "Im Grunde können wir nicht über September hinaussehen", so Lazzarini.
Deutschland größter Unterstützer
Eine Entlassung mehrerer Tausend der insgesamt 30.000 Mitarbeiter sei nur durch private Spender verhindert worden. Das mit Abstand größte Geberland, die USA, hatte die Unterstützung nach den Terrorvorwürfen Anfang 2024 eingestellt und seither nicht wieder aufgenommen. Im ersten Halbjahr 2025 war Deutschland der größte Financier.
Um diese Zahlungen aufrechtzuerhalten, ist Lazzarini in Berlin. Heute und morgen treffe er Abgeordnete aus verschiedenen Fraktionen. Der UN-Generalkommissar werde an Deutschland appellieren, weiter dabei zu helfen, UNRWA "über Wasser zu halten" und einen politischen Prozess zu unterstützen, an dessen Ende ein "geordneter Übergang in die Zukunft" stehen soll. Wie auch immer der aussieht.