Merz' Schmach, ein kleiner Sieg für die Linke und Klöckners Feuertaufe

Es hat länger gedauert als erwartet, aber am Ende steht die neue Bundesregierung. Und doch: Dieser Start ist gehörig in die Hose gegangen. Der neue Kanzler Merz wird Zweifel an seiner Tauglichkeit nicht los. Aber auch SPD-Chef Klingbeil hat einen mitbekommen. Als Erfolg können Bundestagspräsidentin Klöckner und die Linke den Tag sehen. Und die AfD? Die war auch dabei. Die Lehren eines langen Tages.

Das war ein Fehlstart

Die Ampel-Koalition ist auch und vor allem am Dauerstreit gescheitert. Friedrich Merz und Lars Klingbeil wollen daher anders regieren. Doch dieses Vorhaben scheitert gleich an Tag eins. Statt geschlossen Merz zum Bundeskanzler zu wählen, scheren mindestens 18 Abgeordnete aus. Zwei oder drei hätten sich weglächeln lassen, aber wenn so viele nicht an Bord sind, spricht das für große Unzufriedenheit. Das bedeutet nichts Gutes für die Koalition. Muss sie nun ständig um ihre Mehrheit zittern? Ganz so schlimm kommt es hoffentlich nicht. Aber es ist deutlich geworden, dass die beiden Fraktionen sich nicht als Durchwinker und Ja-Sager begreifen.

Ein Selbstläufer wird diese Koalition nicht. Was auch immer den Ausschlag gegeben hat - Konflikte gibt es einige zwischen Union und SPD. Streit könnte es geben über den Mindestlohn, die Bürgergeldreform oder auch den Marschflugkörper Taurus. Das erfordert Führungsgeschick vom Kanzler. Setzt Merz auf den Old-School-Stil "Ich mache eine Ansage und ihr folgt", dann dürfte es schwierig werden. Trotz allem: Die Regierung beginnt ihre Arbeit jetzt erst. Dieser Start motiviert sie hoffentlich zusätzlich, durch gute Arbeit zu überzeugen. Gelingt ihr das, könnte dieser Fehlstart schnell im Rückspiegel verschwinden.

Merz wird Zweifel nicht los

"Gewählt ist gewählt", könnte Merz nach diesem turbulenten Tag sagen. Und falsch ist das nicht. Er ist jetzt Bundeskanzler. Aber er muss mit dem Makel leben, der erste zu sein, dem das nicht im ersten Wahlgang gelang. Der Tag hatte Züge eines Debakels, auch wenn er für den neuen Kanzler einigermaßen glücklich endete. Dieser Stolperstart bringt ihn seinem eigentlichen Ziel - Vertrauen zurückgewinnen, die Mitte stärken - nicht gerade näher. Offenkundig hatte er ja nicht einmal das Vertrauen der eigenen Leute.

Das sagt nichts Gutes über die künftige Stabilität dieser Regierung. Zumal der erste Wahlgang sich einreiht in mehrere unglückliche Momente. Da waren die Abstimmungen mit der AfD, da war der sang- und klanglose Abschied von der Schuldenbremse, da waren die ungeschickten Verhandlungen mit den Grünen vor den Grundgesetzänderungen. Schätzt Merz Situationen richtig ein? Gegen entsprechende Zweifel muss er nun anarbeiten.

Klingbeil kriegt einen mit

Wer hat da der schwarz-roten Koalition den Start vermasselt? Nicht in der Union vermutet man das Gros der Nicht-Ja-Sager, sondern bei den Sozialdemokraten. Zu laut ist das Grummeln über das neue Regierungsbündnis und über den maßgeblichen Architekten auf Seiten der SPD: Partei- und Fraktionschef Lars Klingbeil. Der hat als einer der Hauptverantwortlichen des historisch schlechten Bundestagswahlergebnisses seit dem 23. Februar einen beachtlichen Aufstieg hingelegt. Erst ersetzte er den bisherigen Fraktionschef Rolf Mützenich, dann wurde der 47-Jährige Vizekanzler und Bundesfinanzminister der neuen Regierung. Derweil entlud sich der parteiinterne Unmut an Saskia Esken. Klingbeils Co-Parteichefin bekam keinen Platz an Merz‘ Kabinettstisch.

Wem diese Entwicklungen missfielen, der hatte im ersten Wahlgang beste Gelegenheit zur Revanche. Aber vielleicht ging es den widerborstigen Sozialdemokraten auch gar nicht um den neuen starken Mann der SPD, sondern um Merz und dessen Abstimmung mit der AfD Ende Januar. So oder so: Klingbeil hat den Eklat nicht kommen sehen und steht nun mit angekratzter Autorität da. Wie groß der Schaden wirklich ist, wird er schon bald erfahren: Beim Bundesparteitag Ende Juni will die SPD die Bundestagswahl aufarbeiten und eine neue Spitze wählen. Klingbeil muss sich auf ein sogenanntes "ehrliches Ergebnis" einstellen.

Die Linke ist gar nicht mehr so pfui

Bis zu diesem Tag hatten der neue Star der Linken, Fraktionschefin Heidi Reichinnek, und Friedrich Merz kaum ein Wort gewechselt. Auch die übrigen Unionspolitiker hielten bislang Abstand zu den Linken. Ein Parteitagsbeschluss aus dem Jahr 2020 verbietet jedwede Zusammenarbeit mit der Nachfolgepartei der SED. Am Dienstag aber fand sich Reichinnek zusammen mit Linken-Parteichefin Ines Schwerdtner plötzlich in einem Konferenzraum mit den Unionsgranden Jens Spahn und Alexander Dobrindt wieder. Union und SPD brauchten die Zustimmung nicht nur der Grünen, sondern auch der Linken, um noch am selben Tag die Kanzlerwahl wiederholen zu können.

Die Linke kam dem Ansinnen nach. "Das ist keine Zustimmung zu Ihrer Politik", betonte Linken-Fraktionsgeschäftsführer Christian Görke. Doch der Kontakt ist angebahnt. Höflich gratulierte Reichinnek später Merz zur Wahl. Noch in diesem Jahr soll laut Koalitionsvertrag eine Kommission zur Reform der Schuldenbremse aufgesetzt werden. Diese Reform bräuchte als Grundgesetzänderung die Zustimmung der Linken. Der neue Innenminister und langjährige CSU-Hardliner Dobrindt ließ am Dienstag wissen: "Wenn man eine Zweidrittelmehrheit haben will, dann muss man auch einen Anruf bei den Linken tätigen." Das gelte auch "in Zukunft". Dobrindt tat so, als sei das ganz unspektakulär. Neu war es dennoch.

Klöckner hat die Feuertaufe hinter sich

Sechs Wochen ist es her, dass Julia Klöckner zur neuen Bundestagspräsidentin gewählt wurde. Nun beaufsichtigt sie die Wahl des Bundeskanzlers. Als sie kurz nach zehn Uhr das Ergebnis des ersten Wahlgangs verliest, ist auch sie schockiert. Der Schock ist nicht nur Klöckners CDU-Zugehörigkeit geschuldet. Die erfahrene Politikerin weiß sofort, dass diese neue Situation schnell zur Krise eskalieren kann. Das Land braucht schließlich dringend eine neue Regierung und Merz' Scheitern bedeutet Neuland auch für den Bundestag.

"Das hat es historisch noch nie gegeben", berichtet Klöckner später im Sender Phoenix. "Das war in der Tat eine Herausforderung für alle Beteiligten, insbesondere auch für die Bundestagsverwaltung." Aus dieser kommt am Mittag eine juristische Einschätzung, wie der Wahlgang noch am selben Tag wiederholt werden könnte. Die Fraktionen folgen dem Vorschlag. Klöckner ist im Verlauf der Sitzung immer wieder sichtlich angespannt, gerät zuweilen ins Stocken, wenn sie zum Plenum spricht. Aber so ist das mit Feuertaufen: Hauptsache sauber durch - das hat die neue Bundestagspräsidentin locker geschafft.

Die AfD war auch dabei

Überraschend an diesem Tag war, wie wenig die AfD zum Geschehen beizutragen hatte. Natürlich nannte AfD-Chefin Alice Weidel Merz wieder einmal einen "Wahlbetrüger", natürlich stieß AfD-Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann ins selbe Horn, um der Union, wie immer fast im selben Atemzug, eine Zusammenarbeit anzubieten. Aber das war es dann auch. Die Freude über Merz' Scheitern im ersten Wahlgang war schon am Nachmittag verflogen. Die AfD stimmte sogar dem Antrag der anderen Fraktionen zu, mit dem die Tagesordnung geändert und der zweite Wahlgang ermöglicht wurde. Es wäre nicht nötig gewesen. Am Tag dieser historischen Kanzlerwahl war die AfD anwesend. Mehr nicht.