"Dann kamen die GIs und donnerten an die Tür"

Als vor 80 Jahren der Zweite Weltkrieg endet, ist der Schriftsteller Uwe Timm fünf Jahre alt. In seinen Büchern beschäftigt er sich immer wieder mit dem Krieg und dem Land, das nach dem Ende der Nazi-Zeit entsteht. In "Die Entdeckung der Currywurst" beschreibt er, wie die "urdeutsche Wurst" mit dem "Exotikum" des Currys zusammenfindet. Im Essen zeigt sich, wie etwas Neues entsteht. In "Rot" macht er die 68er zum Thema, die Linken, die sich gegen Nationalismus und Beschönigung des Dritten Reiches wenden. In "Am Beispiel meines Bruders" versucht er zu verstehen, warum sein 16 Jahre älterer Bruder sich freiwillig zur Waffen-SS meldete. Schließlich beschreibt er in "Ikarien" die Tage im Mai 1945. Im Interview mit ntv.de teilt der 85-Jährige seine Erinnerungen an Bombenangriffe und die Tage nach der Befreiung. Und er sagt, was er von den Plänen hält, Deutschland wieder kriegstüchtig zu machen.

ntv.de: Herr Timm, Sie haben den Zweiten Weltkrieg noch als Kind in Hamburg miterlebt. Woran erinnern Sie sich?

Uwe Timm: Einer meiner ersten distinkten Erinnerungen ist, wie ich mit drei Jahren in einem Kinderwagen lag, mit nassen Tüchern zugedeckt, und durch die Osterstraße geschoben wurde. Links und rechts brannten die Bäume. Das hat sich ganz deutlich eingeprägt. In der Luft waren überall kleine Flämmchen. Das waren brennende Gardinenfetzen. Die Scheiben der Fenster waren wegen der Hitze zerplatzt. Die andere Erinnerung ist, dass ich nicht zum Straßenrand gucken durfte. Da lagen die Toten.

Die Wohnung Ihrer Familie wurde bei einem Bombenangriff 1943 zerstört.

Mein Vater war zufällig gerade auf Urlaub, er war bei der Luftwaffe. Er konnte anhand der Nachrichten im Radio einschätzen, dass es ein großer Angriff war. Er hat sehr früh die Leute aus den Wohnungen geholt. Dann ist tatsächlich eine Brandbombe auf unser Haus gefallen. Es brannte sofort lichterloh. Die Menschen trugen zusammen, was sie noch schnell greifen konnten. Ein Tisch wurde aus unserer Wohnung gerettet, der jetzt hier in meiner Wohnung steht. Dazu ein paar Porzellanfiguren, teils beschädigt. Eine weitere Erinnerung ist, wie wir im Keller saßen. Das hatte etwas Bedrückendes. Die Erwachsenen hatten Angst.

Was erinnern Sie vom Kriegsende?

Das habe ich in Coburg erlebt. Dorthin waren wir evakuiert worden, wir hatten dort Verwandte. Zuerst waren da noch die deutschen Soldaten, die Schützengraben aushoben, am Fluss Itz. Ich bin in einen hineingefallen und kam nicht mehr heraus. Ich habe gebrüllt, bis mich ein Soldat gefunden und mir herausgeholfen hat. An die Brücke hatten sie so einen Zirkuswagen mit Steinen geschoben, als Barrikade. Als die Amerikaner kamen, schoben sie ihn mit ihren Panzern einfach beiseite. Es gab auch Schusswechsel. Aber dann waren mit einem Mal die amerikanischen Soldaten da. Wie es der Zufall wollte, war es eine Brigade der Black Panther.

Hatten Sie schon einmal Schwarze Menschen gesehen?

Nein, sie waren die ersten. Wir hatten anfangs auch Angst vor ihnen, weil uns schlimme Dinge erzählt worden waren. Man verstand sie nicht, auch die Frauen hatten Angst. Sie haben sich aber ganz korrekt verhalten. Dann kamen die GIs und donnerten an die Tür. Die Amerikaner gingen rauf und durchsuchten das Haus. Oben fanden sie die Wehrmachtsuniformen von Soldaten, die desertiert waren. Da haben sie getobt, wollten wissen, ob noch deutsche Soldaten im Haus seien. Später sah ich, wie die Erwachsenen Hitler-Bilder im Garten vergruben. Plötzlich hieß es: "Sag nicht mehr 'Heil Hitler' und schlag nicht mehr die Hacken zusammen!" Das hatte ich gerade gelernt, und eben noch hatten das alle witzig gefunden.

Wie reagierten die Menschen auf die Amerikaner?

Die Erwachsenen, vor allem die Männer, die vorher immer in diesem nasalen Ton herumgebrüllt hatten, waren plötzlich ganz klein und sagten: "Ich wusste nichts" oder "Wir hatten nichts damit zu tun". Der Kreisleiter der NSDAP, Feigtmeier, der war gefürchtet, das war eine ungeheuer wichtige, gefährliche, braune Gestalt. Der stand plötzlich in der Gasse und musste sie fegen. Wenn es regnete, fuhren die GIs mit dem Auto vorbei und spritzten ihn nass. Er sprang dann auf den Bürgersteig.

Hatten Sie da noch Angst vor ihm?

Nicht mehr. Meine ganze Generation hat erlebt, dass die Autorität plötzlich nichts mehr galt. Nach ein paar Monaten kamen die Männer aus der Gefangenschaft zurück, und dann relativierte sich das wieder. Aber vorher waren die Männer sehr, sehr schwach und die Frauen sehr stark. Sie hatten ja Berufe ausgeübt. Ich kannte eine Frau, die Kranführerin im Hamburger Hafen gewesen war. Sie fand das toll. Dann kam irgendwann der alte Kranführer zurück und sie musste ihren Posten wieder räumen.

Die Zeit wird auch als Stunde Null bezeichnet. Wie finden Sie den Begriff?

Der ist fragwürdig, weil es nicht so ganz Null war. Was danach kam, war ja in Westdeutschland eine Rekonstruktion alter Verhältnisse. Die Leute, die Besitz hatten, konnten wieder Geschäfte machen, etablierten sich wieder. Die Entnazifizierung wurde immer lascher, auch weil die Angst vor dem Kommunismus, der Ost-West-Konflikt, immer stärker wurde. Irgendwann hatte man dann wieder Richter, die in der Nazi-Zeit noch Todesurteile gesprochen hatten. Einer, Hans Filbinger, wurde sogar Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Er hatte - nach der Kapitulation! - noch einen 18-Jährigen zum Tod verurteilt.

Was war das für ein Land im Mai 1945?

Das Wetter war strahlend, ungewöhnlich warm. Gott sei Dank, weil ja viele auf der Flucht waren. Aber es war eine ungeheure Unsicherheit, die Menschen hatten Angst. Das merkte man, sie sprachen leiser, nicht mehr im Kommandoton. Manche mussten ihre Wohnungen verlassen, weil da Amerikaner hineinkamen. Die Gefangenen aus den KZs, die Zwangsarbeiter, damals Fremdarbeiter genannt, kamen frei und nahmen sich die Dinge, die sie brauchten. Da wurde geplündert. Die Frauen hatten Angst, in den Wald zu gehen. Es war eine Zeit des Übergangs. Die alte Ordnung war noch nicht ganz verschwunden. Die neue aber noch nicht da.

Bundespräsident Richard von Weizsäcker sagte 1985 in einer berühmten Rede, der 8. Mai sei nicht nur ein Tag der Niederlage gewesen, sondern auch der Befreiung. Stimmt das?

Unbedingt. Das ist das Große an dieser Weizsäcker-Rede. Das war ein Einschnitt. Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie die Nazi-Zeit noch damals beschönigt wurde. Überall waren noch Nazis in den Ämtern. Ich hatte Nazis als Lehrer, die noch sagten, "das mit den Juden" sei gar nicht so schlimm gewesen. Und auch 1945 gab es tatsächlich dieses Gefühl der Befreiung. Ein befreiender Akt in Coburg war zum Beispiel die Plünderung eines Wehrmachtslagers. Auch meine Mutter war dabei und hatte sich Dosen herausgeholt.

Zweifellos begann nach dem Krieg etwas Neues. Was war neu?

Es gab diese Faszination für die Amerikaner. Das war eine ganz andere Lebenswelt. Die deutschen Soldaten hörte man immer marschieren, dieses Stampfen mit den genagelten Stiefeln. Plötzlich kommen die Amerikaner, ganz leise auf Gummisohlen. Dieses Lässige, was damit verbunden war. Man schlug eben nicht mehr die Hacken zusammen. Die Sprache änderte sich, wurde ganz anders. Ich habe bis heute diese Kommandos im Ohr, "Komm her", "Lass das", "Tu dies, tu das", immer im Befehlston. Das verschwand.

Verteilten die Amerikaner auch Kaugummis?

Ja, auch das. Man macht sich auch keine Vorstellung, was der Tabak ausmachte. Die Zigaretten waren hoch begehrt. Im Herbst 1945 bekamen wir unser erstes Care-Paket. Die Hosen, der Anzug, diese Lederschuhe, das war alles hervorragend. Das Essen war exzellent. Dann die Jeans, eine funktionale, einfache, tolle Hose. So überzeugten die Amerikaner auch mit ihren Konsummöglichkeiten. Das war so, dass die Erwachsenen nur noch dumm aus der Wäsche guckten. Auch Jazz hörte ich später, obwohl es mir mein Vater verbieten wollte. Und die Schokolade schmeckte einfach unvergleichlich gut.

Nach 1945 begann eine neue Identität in Deutschland zu wachsen. In Ihrer Novelle "Die Entdeckung der Currywurst" geht es auch darum. Warum war die Currywurst so wichtig?

Die Berliner behaupten ja, dass sie die Currywurst erfunden haben, und ich glaube, das stimmt auch. Aber ich habe in Erinnerung, wie ich 1948 auf dem Großneumarkt in Hamburg eine Bratwurst gegessen habe, die sehr scharf war und mit Tomaten serviert wurde. Manche Erfindungen werden ja gleichzeitig an mehreren Orten gemacht. Wenn da diese urdeutsche Wurst mit so einem Exotikum wie dem Curry zusammenkommt, zeigte das, wie sich etwas änderte. Meine Mutter kannte Curry bis dahin gar nicht.

In Ihrem Buch "Am Beispiel meines Bruders" versuchen Sie zu verstehen, warum Ihr Bruder sich freiwillig zur Waffen-SS meldete. Er starb in einem Feldlazarett.

Wie kommt man dazu, andere erschießen zu wollen und auch sich selbst erschießen zu lassen? Was geht in einem 18-Jährigen vor, der schreibt: "75 Meter, Iwan raucht Zigarette, ein Fressen für mein MG." Was ist da passiert? Ich wollte schon lange darüber schreiben, habe es aber immer wieder weggelegt, weil es so hart war. Solange meine Mutter lebte, konnte ich es nicht. Sie hatte ein anderes Verhältnis zu meinem Bruder. Sie war eine der wenigen Erwachsenen, die sich selbst Schuld gaben. Sie fragte: Wie kann es sein, dass ich nie nachgefragt habe, was mit meiner jüdischen Nachbarin passiert ist?

Welche Antworten haben Sie gefunden?

Ich habe keine endgültigen Antworten. Aber was fehlte, war eindeutig die Zivilcourage. Eine der wichtigen Dinge ist es, Nein sagen zu können, zu widersprechen, seine Meinung sagen zu können. Fragen stellen. Das muss man lernen. Woher kommt diese Konditionierung, bereitwillig Befehle auszuführen? Das gehörte wirklich zur deutschen Mentalität, die erst durch 1968 aufgelöst wurde. Plötzlich gab es einen Begriff gegenüber Professoren: "Hinterfragen". "Herr Professor, das möchte ich hinterfragen." Die waren ganz sprachlos. Diejenigen, die sich darauf einließen, hatten eine Diskussion an der Backe. Und das war gut so. Das war ein langer Prozess, der jetzt eher wieder umgekehrt wird.

Was denken Sie, wenn der Verteidigungsminister sagt, wir sollten kriegstüchtig werden?

Ich finde das erschreckend. Das Ziel war bisher immer, friedenstüchtiger zu werden. Aber es ist wirklich komplex. Das liegt natürlich auch an Putin. Ich war früher selbst ein Putin-Versteher. Ich hätte nie gedacht, dass er diesen Krieg anzettelt. Wenn man in so einer Situation sagt: "Dagegen muss man sich verteidigen", kann ich dem gar nichts entgegnen. Und wenn einer dahingeht und das tut, hat er auch meine Achtung. Aber es ist auch eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Jetzt 500 Milliarden Euro in die Verteidigung zu stecken, während vorher für alles das Geld fehlte, das ist ungeheuer unglaubwürdig. Dafür hat Herr Merz eine Klatsche bekommen.

"Nie wieder Krieg" war lange prägend für die Bundesrepublik. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine gibt es aber offenbar doch einen legitimen Krieg, den Krieg zur Verteidigung der Freiheit.

Ich verstehe jeden, der sein Land gegen einen Aggressor verteidigen will. So wie die Polen gegen die Deutschen, so wie es die Schweizer zu tun bereit sind. Und natürlich wie es die Ukrainer gegen die Russen machen. Die Frage muss aber auch immer sein: Über wessen Freiheit reden wir hier? Die der Reichen mit Haus an der Côte d'Azur? Das ist eine zentrale Frage: Ist die Gesellschaft, die wir verteidigen, gerecht? Schließt sie auch die Armen und Deklassierten ein? Gibt es einen Patriotismus, der dem ganzen Land gilt? Oder geht es nur um die Freiheit, mit 180 über die Autobahn zu fahren?

Und ist die Gesellschaft gerecht?

Diese, unsere Gesellschaft ist nicht gerecht. Es gibt Gerichte, die gerecht urteilen, das ja. Aber sozial klafft das auseinander. Warum sollte jemand die Villen verteidigen? Eine gerechte Gesellschaft verteidigt sich leichter. Das ist ein Auftrag an die Politik.

Mit Uwe Timm sprach Volker Petersen