Am 8. Mai jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa zum 80. Mal. Zur Gedenkveranstaltung am Tag der Befreiung im Deutschen Bundestag wurden Vertreter von Russland und Belarus ausgeschlossen. Osteuropa-Historikerin Corinna Kuhr-Korolev erklärt im Interview mit ntv.de, wie der Krieg um die Erinnerung heute geführt wird und welche Auswirkungen aktuelle Kriege auf das Gedenken haben. "Geschichte wird wieder als Waffe eingesetzt", sagt sie. Die getrennten Feierlichkeiten hält Kuhr-Korolev für unvermeidlich.
ntv.de: Wie feiert Russland den "Tag des Sieges" in diesem Jahr?
Corinna Kuhr-Korolev: In Russland feiert man am 9. Mai den Sieg der Roten Armee über Nazideutschland im "Großen Vaterländischen Krieg", wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird. Es ist mittlerweile der wichtigste nationale Feiertag, der mit großem Aufwand im ganzen Land gefeiert wird. Bereits seit einem Jahr laufen die Planungen dafür, es gibt ein einheitliches Logo und von Moskau erarbeitete Gestaltungsvorgaben, auf die in allen Regionen des Landes zurückgegriffen werden soll. In verschiedenen Städten wie St. Petersburg, Smolensk oder Wolgograd und an Militärstandorten finden Militärparaden statt. Bei der größten in Moskau rollen Panzer über den Roten Platz, donnern Kampfflugzeuge über das Zentrum, marschieren Eliteeinheiten an der Ehrentribüne vorbei, unter ihnen auch solche, die im Krieg Russlands gegen die Ukraine eingesetzt sind. Diese Paraden sollen als alte staatliche Tradition gelten - dabei war das nicht immer so.
Seit wann begeht Russland den Tag mit Militärparaden?
In den ersten Jahren nach dem Ende des Krieges wurde in der Sowjetunion der Tag gar nicht gefeiert. Erst nach und nach hat er sich zum offiziellen Feiertag entwickelt. Ausschließlich bei den größeren Jubiläen 1965, 1975, 1985 und 1990 gab es Militärparaden auf dem Roten Platz in Moskau. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fanden im Nachfolgestaat Russland bis 1995 keine Paraden statt. Bei den feierlichen Massenveranstaltungen der späten 1990er Jahre auf dem Roten Platz rollten keine Panzer oder anderes militärisches Gerät. Erst seit den frühen 2000er Jahren, nachdem Putin an die Macht gekommen war, findet die Parade jährlich statt - zunehmend als Militärschau.
Was erwarten Sie in diesem Jahr?
Russland versucht, mit den Feierlichkeiten ein Signal der Stärke nach innen und nach außen zu senden. Schon vor zehn Jahren habe ich mit russischen Bekannten genau darüber gestritten: Wenn Panzer über den Roten Platz fahren und Soldaten im Stechschritt marschieren - ist das eine Machtdemonstration oder nur Ausdruck von Vaterlandsliebe? Ich fand es damals schon bedrohlich, und der Angriff auf die Ukraine hat gezeigt, dass meine Sorgen berechtigt waren. Der Appell an den Patriotismus und die allmähliche Militarisierung diente letztlich der mentalen Vorbereitung der Bevölkerung auf den Krieg und sichert nach wie vor ein Minimum an Zustimmung für die sogenannte "militärische Spezialoperation".
Das betrifft die Wirkung nach innen. Und worum geht es mit Blick auf das Ausland?
Putin ist es wichtig, dass möglichst viele ausländische Vertreter kommen. Denn er will, dass Russlands historische Leistung und seine Macht in der Welt wahrgenommen werden. Gleichzeitig demonstriert er damit den Anspruch Russlands auf eine führende Rolle in der Weltpolitik.
Und warum feiert Russland den "Tag des Sieges" am 9. Mai und andere europäische Staaten wie Deutschland den 8. Mai als "Tag der Befreiung"?
Das hat einen einfachen Grund: Die bedingungslose Kapitulation wurde an zwei verschiedenen Orten an zwei unterschiedlichen Tagen unterschrieben.
Wie kam es dazu?
Nach erfolglosen Verhandlungsversuchen unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl am 7. Mai 1945 im Hauptquartier der West-Alliierten im französischen Reims die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Damit endeten die Kampfhandlungen an den Fronten in Europa. In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai wurde die Unterzeichnung der offiziellen Kapitulation gegenüber der russischen Armee wiederholt.
Warum?
Stalin hatte darauf gedrängt. Deshalb unterzeichneten die deutschen Oberbefehlshaber von Heer, Kriegsmarine und Luftwaffe im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst erneut eine Urkunde. Und um 00.16 Uhr Ortszeit, 01.16 Uhr Moskauer Zeit, wurde am 9. Mai die letzte Unterschrift gesetzt. Diese zwei Daten markieren heute zwei unterschiedliche historische Betrachtungsweisen des Kriegsendes, die in den vergangenen Jahren zunehmend in Konkurrenz getreten sind, ideologisch aufgeladen werden und zu einem regelrechten Erinnerungskrieg geführt haben.
Was meinen Sie mit Erinnerungskrieg?
Geschichte wird wieder als Waffe eingesetzt. Mit historischen Argumenten werden territoriale Machtansprüche geltend gemacht bzw. zurückgewiesen. Dabei kommt der Deutung des Kriegsendes eine zentrale Rolle zu. Fast kann man sagen, dass sich die Welt heute in zwei Lager aufteilt: Das eine folgt dem russischen Narrativ und betont, dass die Rote Armee die maßgebliche Kraft bei der Befreiung Europas vom Faschismus war. Das ist der Gründungsmythos für das heutige Selbstverständnis Russlands. Das andere streitet die historische Leistung der Sowjetunion nicht ab, will aber trotzdem betonen, dass auf die Befreiung für viele Staaten Osteuropas keine Selbstbestimmung folgte.
Was folgte auf die Befreiung für die osteuropäischen Staaten?
Bürgerinnen und Bürger der baltischen Staaten, Polens oder der Ukraine erfuhren während der sowjetischen Besatzung infolge des Hitler-Stalin-Pakts in den Jahren 1939/1940-1941 und erneut nach 1944 bzw. 1945 Verfolgungen, Deportationen und Unterdrückung. Sie sehen sich als Opfer einer damals imperialen Politik der Sowjetunion und erkennen in der gegenwärtigen russischen Politik ein Aufleben dieser imperialen Ambitionen. Die aggressive Rhetorik Putins und seiner Umgebung bestätigen solche Wahrnehmungen. In den historischen Deutungen spiegeln sich die aktuellen politischen Verwerfungen wider.
Inwiefern?
Wer heute der Einladung folgt, gemeinsam mit Putin die Parade auf dem Roten Platz abzunehmen, stellt sich auf die Seite der Putinschen historischen Wahrheit und dem mit ihr begründeten Angriffskrieg in der Ukraine. Damit wird der 9. Mai zum Marker, das Feiern dieses Datums zum politischen Bekenntnis.
Und wer feiert heute den 9. Mai?
"Der Tag des Sieges" wird nach wie vor in den meisten ehemaligen Sowjetrepubliken, die heute unabhängige Staaten sind, gefeiert. Allerdings geschieht das auf sehr viel bescheidenere Weise als in der Russischen Föderation. Manchmal wurde die Bezeichnung leicht geändert, wie in Usbekistan, um sich von der sowjetischen Tradition abzusetzen. Nicht immer ist der 9. Mai ein nationaler Feiertag. Deutlich wichtiger sind dort Feiertage, die nach dem Ende der Sowjetunion etabliert wurden und die bezeichnenderweise in den meisten Fällen "Tag der Unabhängigkeit" heißen. Die baltischen Staaten feiern den 9. Mai aus den bereits genannten Gründen nicht.
Auch die Ukraine war eine Sowjetrepublik. Wie ist es dort?
In der Ukraine blieb der 9. Mai in den ersten Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein Feier- und Gedenktag. Als eine Reaktion der ukrainischen Regierung auf die Annexion der Krim durch Russland wurde seit 2016 nicht mehr der 9. Mai, sondern der 8. Mai als "Tag des Gedenkens und der Versöhnung" begangen. Im Sommer 2023 erfolgte eine weitere Veränderung der Bezeichnung, nun in "Tag des Gedenkens und des Sieges über den Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg 1939–1945". Damit betont die Ukraine ihren aktiven Anteil am Kampf gegen den Nationalsozialismus und grenzt sich von der sowjetischen und der russischen Geschichtsschreibung ab.
Auch das ist Teil des Erinnerungskrieges?
Der Erinnerungskrieg zwischen Russland und der Ukraine zieht sich schon über einen längeren Zeitraum. Er ist nach dem Euromaidan und der Annexion der Krim virulent geworden. Er wurde mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine weiter entfacht. Russland monopolisiert diesen Feiertag schon lange und nutzt ihn, um den Gründungsmythos des Sieges über den Faschismus zu etablieren. Im Frühjahr 2022 begründete Russland den Angriff auf die Ukraine mit dem Argument, dort müsse man die Wiederauferstehung des Faschismus verhindern. Die Bekämpfung eines "Faschismus" in der Ukraine ist die Rechtfertigung Russlands für den Angriffskrieg. Dieses Narrativ nutzt Putin bis heute, um den Krieg zu legitimieren, aber ebenso, um die Bevölkerung als Ganzes zu mobilisieren und ihr irgendwie zu vermitteln, dass das Kämpfen und Sterben in diesem irrwitzigen Krieg einen Sinn haben könnte.
Wie?
Nicht nur die Sowjetunion war ein Vielvölkerstaat, auch Russland ist ein Staat, der aus vielen Nationalitäten und Ethnien besteht. Es ist zu beobachten, dass sich die Rhetorik im Verlaufe des Ukraine-Krieges auf russischer Seite verändert hat: In Analogie zum Sowjetvolk, das einst über den Nationalsozialismus gesiegt hat, wird heute vom heldenhaften Kampf aller Völker der Russischen Föderation gesprochen. Die Erzählung des gemeinsamen Sieges wird gezielt genutzt, um die Völker und Ethnien zu vereinen. Denn im Ukraine-Krieg kämpfen viele Soldaten dieser nationalen Minderheiten für Russland. Russland stellt ihr Sterben im Kampf in der Ukraine heute in die historische Tradition. Dem russischen Narrativ zufolge vollenden diejenigen, die heute in der Ukraine sterben, die heldenhaften Taten ihrer Vorväter. Das bezeichnen sie als "heilige Pflicht".
Was bedeutet das?
Der Kampf gegen den Faschismus, als historisches Erbe aus dem "Großen Vaterländischen Krieg", wird sakralisiert. Dabei hilft, dass die russisch-orthodoxe Kirche eng mit dem russischen Staat verbunden ist. Heute heißt es, dass es im Ukraine-Krieg auch darum geht, "heilige Werte" - also das, was das Russländische vermeintlich ausmacht: Familie, Vaterland und Einigkeit - zu verteidigen. Diese Werte habe man damals gegen den Faschismus verteidigt und auch jetzt werden in dieser Lesart diese Werte gegen einen fremd gewordenen Westen verteidigt.
Befindet sich Deutschland in einem Erinnerungskrieg mit Russland?
Wir befinden uns in keinem direkten Erinnerungskrieg mit Russland, wie es die baltischen Staaten, Polen oder die Ukraine sind. Eher spürt man, dass Deutschland lange geteilt war und deshalb bis heute zwei - nennen wir es mal - Schulbuchnarrative präsent sind, die aus dem Kalten Krieg stammen. Wenn russische Narrative hier auf fruchtbaren Boden fallen, dann hat das auch etwas damit zu tun.
Also tragen wir einen Erinnerungskrieg innerhalb der deutschen Gesellschaft aus?
Als Erinnerungskrieg würde ich es nicht bezeichnen. Aber die Polarisierung rund um die beiden Daten 8. und 9. Mai bildet sich schon in den deutschen Diskussionen ab. Allerdings gibt es bizarre Lagerbildungen, die dadurch entstehen, dass sich tradierte Geschichtsauffassungen mit politischen Präferenzen schneiden. Rechtsnationale Kräfte in der alten Bundesrepublik haben den sowjetischen Antifaschismus immer bekämpft, in der Putinschen Auslegung wird er nun Teil des rechten Gedankenguts. Im linken Lager wurde gegen kapitalistische Kriegstreiberei gewettert, und heute können manche Anhänger aus dieser Ecke genau diese Elemente in der jetzigen russischen Politik nicht erkennen. Aber auch die politische Mitte ist in einem Prozess des Überdenkens der Positionen. Der breite Konsens, den Richard von Weizsäcker mit seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985 herstellen konnte, wird im kommenden Jahrzehnt kaum mehr tragen.
Vertreter von Russland und Belarus sind von der offiziellen Gedenkveranstaltung am 8. Mai im Bundestag ausgeschlossen worden. Wie schätzen Sie das ein?
Für Deutschland ist das eine diplomatisch schwierige Situation. Aus meiner Sicht hat das Auswärtige Amt zu Recht von der Teilnahme russischer und belarussischer Vertreter an Gedenkveranstaltungen zum Kriegsende abgeraten. Auch der Bundestag hat Russland und Belarus von der zentralen Gedenkfeier zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa zu Recht ausgeschlossen. Denn es ist zu befürchten, dass das Gedenken für russische Staatspropaganda missbraucht wird. Gleichzeitig ist der Ausschluss aber auch schwierig.
Wo sehen Sie das Problem?
Das historische Ereignis und die Opfer sind unumstritten. Und um die Opfer sollte getrauert werden. Aber die aktuelle Situation ist nun einmal so, dass man dies nicht gemeinsam tun kann. Man kann der ukrainischen Seite nicht zumuten, gemeinsam mit russischen Vertretern an einer Trauerfeier teilzunehmen, wenn gleichzeitig in ihrem Land jeden Tag Menschen von russischen Bomben getötet werden.
Besteht keine Möglichkeit, vielleicht doch gemeinsam zu gedenken?
Es gibt gerade nur die eine Lösung: Wir begehen den Tag unter uns - ohne Russland und Belarus. An Russland und Belarus geht das Signal, wir pflegen eure Denkmäler und ihr könnt dort eurer Toten gedenken. Jedoch muss klar sein, dass ihre staatliche Propaganda an diesen Orten nichts zu suchen hat - auch über Verbote. Insofern ist es auch richtig, dass ein Fahnenverbot besteht. Aber wem es wirklich um gemeinsames Trauern um die Toten geht, um Verständigung über die Gräben hinweg, der braucht dafür keine offiziellen Vertreter, Reden und keine Anweisungen des Staates. Der lädt seine ukrainischen, georgischen, russischen, armenischen, litauischen und anderen Bekannten und Freundinnen nach Hause ein, bewirtet sie, trinkt mit ihnen, lässt sich Familiengeschichten erzählen - und hofft, dass so der Sinn für das Gemeinsame zurückkehrt.
Mit Corinna Kuhr-Korolev sprach Rebecca Wegmann