Steinmeiers Rede ist gewagt - aber so notwendig wie bitter

Es waren in erster Linie die USA und die Sowjetunion, die Hitler-Deutschland niedergerungen haben. 80 Jahre später gefährdeten ausgerechnet Washington und Moskau die friedenssichernde Staatenordnung, befindet Bundespräsident Steinmeier am Jahrestag des Kriegsendes. Das ist ein gewagter Befund.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier belehrt Russland und die USA über Frieden und Demokratie, ausgerechnet am Tag des Gedenkens für 60 Millionen Tote des Zweiten Weltkriegs in Europa. 1939 hatten die Deutschen im Alleingang den verheerendsten Krieg der Geschichte vom Zaun gebrochen. Heute vor 80 Jahren endete er. Darf sich an einem solchen Tag der deutsche Staatschef über die Regierungen der einstigen Alliierten erheben und sie zurechtweisen? Das ist schon ein starkes Stück. Aber das deutsche Staatsoberhaupt sieht sich dazu genötigt: Die unseligen Geister des Krieges sind zurück an Europas Haustür und ihr Pochen wird immer lauter.

Mit keiner Silbe relativiert Steinmeier in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag das Grauen des Zweiten Weltkrieges und wer dafür verantwortlich ist. Es waren die Deutschen - und sie haben lange gebraucht, sich zu dieser Verantwortung zu bekennen und die richtigen Lehren aus dem zu ziehen, was ihre Eltern und Großeltern angerichtet haben. Und sei es nur durch Wegschauen und Wegducken vor dem NS-Regime. Und doch hat sich diese Konfrontation mit der eigenen Geschichte als Geschenk entpuppt: Deutschland hat nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen kleinen Schritten seine Tradition des Autoritarismus und Rassenhasses, die weit in die Kaiserzeit zurückgeht, abgeschüttelt.

Alle Errungenschaften in Gefahr

Nie zuvor war Deutschland so weltoffen, so pluralistisch, dermaßen von innen heraus demokratisch, lebte derart im Guten mit seinen europäische Nachbarn wie in den Jahrzehnten um die Jahrtausendwende. Doch was seit dem Kriegsende gewonnen wurde, steht 80 Jahre später wieder auf der Kippe: Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand. Diese Gefahr geht vor allem auf drei Kräfte zurück: dem kriegerischen Imperialisten Wladimir Putin, dem auf internationale Zusammenarbeit nichts gebenden Donald Trump und den immer weiter an Momentum gewinnenden rechtspopulistischen Bewegungen in Europa. Und nicht zufällig stehen diese Kräfte wie kommunizierende Röhren in Austausch miteinander.

Niemand weiß heute, ob die US-amerikanische Gesellschaft die innere Kraft haben wird, die autoritären Entwicklungen an ihrer Spitze wieder abzuschütteln. Anders als das Deutschland der 30er und 40er Jahre haben die Vereinigten Staaten zumindest eine lange demokratische Tradition, aus der die Menschen schöpfen können. In Russland gibt es nichts vergleichbares: Es war eine Diktatur vom Zaren bis zu Putin, unterbrochen von wenigen chaotischen Jahren, in der Demokratie vor allem ökonomische Unsicherheit bedeutete.

Es ist nicht Deutschlands Aufgabe, diese Nationen von außen zu befreien, wie es die Alliierten mit den Deutschen getan haben. Doch während der Schutz durch die USA wegfällt, ist ein Krieg mit Russland keine graue Theorie mehr. Die Nachkommen Hitler-Deutschlands müssen selbst auf sich und ihre Demokratie aufpassen. Schön ist das nicht und nicht einfach.

Eine Rede voll blinder Flecken

Steinmeiers Rede weist trotz ihrer Länge viele blinde Flecken auf: etwa die ungebrochene Unterstützung Deutschlands für Israel, während die immer extremistischer auftretende Regierung von Benjamin Netanjahu im Gaza-Streifen weiter Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht. Oder Deutschlands Beziehungen zum NATO-Mitglied Türkei, wo Präsident Recep Tayyip Erdogan Menschenrechte unterdrückt, aber als Schutzwall Europas vor Flüchtlingen gebraucht wird. Oder Deutschlands wirtschaftlich motiviertes Arrangement mit den nicht minder ruchlosen Machthabern in Peking. Die Liste ließe sich fortsetzen. Und es bleibt dabei: Als Kanzleramtsminister und Außenminister hatte derselbe Frank-Walter Steinmeier etwaige Warnungen vor Putins wahren Ambitionen in den Wind geschlagen.

An diesem 80. Jahrestag des Weltkriegsgedenkens bleibt vieles ungesagt im Bundestag, was unbedingt dazu gehört, wenn es um Deutschlands Rolle bei der Förderung von Frieden und Demokratie in der Welt geht. Doch nichts wird besser, wenn bald auch Deutschland der historischen Amnesie frönt, wenn auch Deutschland aus purer Überforderung mit der Komplexität allen Seins wieder sein Glück in Nationalismus und Führerprinzip sucht.

Das Gedenken bleibt fundamental. Das Reden und Feststellen, was ist, bleibt fundamental. Das hat Frank-Walter Steinmeier in einer der stärkeren Reden seiner Amtszeit getan. Wer widersprechen mag: nur zu! Deutschland ist frei und demokratisch - leider ohne Ewigkeitsgarantie.