Wie kulturelle Prägung die Wahrnehmung beeinflusst

Mithilfe der sogenannten Coffer-Illusion untersucht ein Forschungsteam, welchen Einfluss die kulturelle Prägung auf die Wahrnehmung hat. Menschen aus den USA, Großbritannien und Namibia werden gefragt, was sie sehen. Die Antworten überraschen.

Was Menschen in einem bestimmten grafischen Bild sehen, lässt einer Studie zufolge Rückschlüsse darauf zu, aus welcher Umgebung sie kommen. In einem Experiment von Forschern der Universität Harvard und der London School of Economics gaben 81 Prozent der Betrachterinnen und Betrachter aus den USA und Großbritannien an, in dieser sogenannten Coffer-Illusion nur Rechtecke zu sehen. 48 Prozent der Menschen aus namibischen Dörfern hingegen nahmen nur Kreise wahr - und nur unter 2 Prozent ausschließlich Rechtecke. Nur Kreise wiederum sah keiner der Teilnehmer aus den USA und Großbritannien.

Die Studie legt nahe, dass die Umgebung, in der Menschen aufwachsen oder leben, eine Rolle für die Wahrnehmung spielt - also dass Menschen, die umgeben von rechteckiger Architektur leben, diese Formen auch leichter erkennen. Die traditionellen Dörfer des indigenen Himba-Volkes in Namibia haben eher runde Hütten als Behausungen. Dies erklärt auch die Antwort einer von dort stammenden Teilnehmerin, die zwar Kreise wahrnahm, aber gleichzeitig antwortete, sie würde in dem Bild "Häuser" erkennen.

Für das Experiment sind 263 Personen aus den USA und Großbritannien online befragt worden, 113 aus Opuwo, einer städtischeren Umgebung im Norden Namibias mit einigen rechteckigen baulichen Strukturen sowie 113 aus einer dörflichen Umgebung in Namibia mit kaum rechteckigen baulichen Strukturen. Die Studienteilnehmer und -teilnehmerinnen in Namibia wurden persönlich befragt.

Ergebnis nach weiterer Aufforderung

Die sich verändernde Wahrnehmung erfassten die Forscher, indem sie die Probanden nach der ersten Antwort jeweils fragten, ob sie noch weitere Formen in dem Bild erkennen. Bei der Gruppe aus den USA und Großbritannien sahen etwa 17 Prozent zuerst Rechtecke und später Kreise. 3 Prozent sahen erst Kreise, dann Rechtecke. 48 Prozent der Namibier gaben an, erst Kreise und danach die Rechtecke zu sehen, die übrigen sahen erst Rechtecke und dann Kreise (unter 3 Prozent).

Die Antworten einer dritten Versuchsgruppe stützen die Hypothese der Analyse, die bislang noch in keinem Fachjournal, sondern als sogenannte Pre-Print-Studie online veröffentlicht wurde: Teilnehmer aus Namibia, die nicht auf dem Land, sondern in städtischer Umgebung mit mehr rechteckigen Strukturen lebten, hatten eine gemischtere Wahrnehmung: 19 Prozent sahen nur Kreise, 67 Prozent zuerst Kreise, dann Rechtecke und immerhin 13 Prozent zuerst Rechtecke, dann Kreise.

Bisherige Annahmen sind falsch

Die visuelle Wahrnehmung werde im Allgemeinen als Mechanismus angesehen, der für alle Bevölkerungsgruppen gleich sei, heißt es in der Studie. Diese Annahme sei so stark ausgeprägt, dass die Wissenschaft nicht einmal verursacht habe, kulturelle Auswirkungen auf die Wahrnehmung zu untersuchen.

Seine Erkenntnisse sieht das Forschungsteam als wichtigen Beleg dafür, dass kulturelle Erfahrungen bei der menschlichen Wahrnehmung sehr wohl eine wichtige Rolle spielen. "Das zeigt, wie wichtig Vielfalt ist", wird der beteiligte Psychologe Michael Muthukrishna von der London School of Economics in einem Beitrag des Fachjournals "Science" zitiert. "Wenn man versucht, sich ein vollständiges Bild von der Welt zu machen, sollte man einige Leute im Raum haben, die Kreise sehen, während man selbst nur Rechtecke sieht."