Klimaneutrale, unerschöpfliche Energie - und das rund um die Uhr: Kernfusion ist ein bisher unerreichter Traum der Menschheit. Immer mehr Unternehmen setzen dennoch darauf, auch Gauss Fusion mit Sitz in Garching bei München. Mit der Chefin Milena Roveda sprach ntv.de darüber, warum es mit der Kernfusion nun endlich klappen soll.
ntv.de: Frau Roveda, es gibt den Running Gag, dass Kernfusion immer 30 Jahre von ihrer Einsatzreife entfernt ist, egal, zu welchem Zeitpunkt man fragt. Laut einer Analyse des DIW hat sich daran bis heute nichts geändert. Gauss Fusion will schon in 20 Jahren einen Reaktor am Netz haben. Wie passt das zusammen?
Milena Roveda: Aus meiner Sicht gibt es drei Gründe, warum die Situation nun eine andere ist. Einer ist der Krieg in der Ukraine und die gestiegenen Energiekosten. Das hat die Welt und die Europäer wachgerüttelt. In Italien haben Familienbetriebe nach 100 Jahren ihre Cafés zugemacht, weil die plötzlich Stromrechnungen in Höhe von 20.000 Euro pro Monat hatten. Die zweite Sache ist, dass es große Fortschritte bei Künstlicher Intelligenz gibt. Simulationen, für die Computer früher Monate gebraucht haben, können sie heute in Wochen, wenn nicht Tagen machen. Entscheidend für mich ist aber der dritte Grund. Die Industrieunternehmen haben die Seite gewechselt. Die Rolle der Industrie hat sich gewandelt - vom Lieferanten hin zum Bauherrn. Es sind nun Ingenieure und nicht mehr Wissenschaftler, die einen Fusionsreaktor bauen.
Warum soll Gauss Fusion gelingen, woran auch viele andere Kernfusions-Unternehmen, bisher ohne Erfolg, arbeiten?
Es sind zwei Sachen, die besonders an Gauss Fusion sind. Zum einen wurde das Unternehmen von anderen Firmen aus der Industrie gegründet, dadurch können wir auf umfassende Erfahrung mit Großprojekten zurückgreifen. Wir sind im Kern Unternehmer - das bedeutet, Chancen aktiv zu nutzen, Risiken verantwortungsvoll einzugehen und pragmatische Lösungen voranzutreiben. Das Zweite ist, dass wir europäisch sind. Wir haben Firmen aus Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien mit dabei. Dadurch vereinen wir unterschiedliche technische Stärken, vielfältige Perspektiven und ein breites Netzwerk - das macht uns anpassungsfähig, innovativ und schlagkräftig auf europäischer Ebene.
Aber die Industrie ist doch schon länger an Kernfusions-Projekten beteiligt, wie bei der Dauerbaustelle ITER in Südfrankreich. Warum sollte sie im Alleingang erfolgreicher sein?
Das Projekt ITER ist ein gutes Beispiel. Wenn Sie die Lieferanten fragen, was das größte Problem bei der Zusammenarbeit mit ITER war, werden ihnen geschätzt über 80 Prozent sagen, dass sie nicht von Beginn an mit einbezogen wurden. Denn zuerst hatten Physiker schöne Pläne gemacht und sind dann zur Industrie gegangen. Die Industrie hat geantwortet, dass die Pläne zwar auf dem Papier gut aussehen, jedoch nicht umsetzbar seien. Gauss Fusion will es anders machen. Und zwar so, wie es erfolgreich bei CERN gemacht wurde. Unser CTO ist Frédérick Bordry, er war 30 Jahre Direktor bei CERN. Er ist ein Ingenieur und meint, Physiker hätten zwar die Theorie im Kopf, aber er müsse zusehen, dass er daraus etwas baut, was man anfassen kann.
Warum hat dann die Industrie nicht früher versucht, auf eigene Faust ein Fusionskraftwerk zu bauen?
Weil es lange nicht die Notwendigkeit gab. Fusion ist aufwendig. Warum sollte man Fusion betreiben, wenn man weiterhin Kohle verbrennen kann? Aber jetzt ist der Punkt erreicht, wo viele Faktoren zusammenkommen: der Wunsch nach CO2-Neutralität, die neuartigen Supercomputer, die Energiekrise. Und die Industrie macht das natürlich nicht nur zum Wohle der Menschheit, sondern weil es tatsächlich ein Business gibt. Nun ist der richtige Zeitpunkt gekommen.
Sie haben steigende Energiekosten als Treiber der Entwicklung von Kernfusion genannt. Photovoltaik und Windkraft sind aber mittlerweile die günstigsten Stromarten. Bei Kernfusion geht man nicht davon aus, dass diese noch günstiger sein wird. Wie kann sie dann konkurrenzfähig sein?
Tatsächlich gehen auch wir nicht davon aus, dass Fusion jemals so günstig sein wird wie Solarenergie. Aber man kann nicht nur auf Solarenergie und Windkraft setzen, Sie haben gesehen, was in Spanien passiert ist (Anm. d. Red.: Ein großer Stromausfall, der zum Teil auch auf den massiven Einsatz von Solar- und Windkraftanlagen zurückgeführt wird). Sie brauchen eine konstante Quelle, die Strom in das Netz speist. Einen Mix aus Energien. Und das wird Fusion leisten können.
Haben Sie eine Vorstellung davon, wie teuer Strom aus Kernfusion werden könnte?
Aus unserer Sicht besteht kein Grund zur Annahme, dass ein Fusionskraftwerk wesentlich günstiger sein wird als ein Atomkraftwerk. Sie benötigen ebenfalls Stahl und Beton. Es wird aber Unterschiede bei den laufenden Kosten geben.
Bei der Kernfusion gibt es unterschiedliche Ansätze zur Energiegewinnung. Einmal der Magnetische Einschluss, bei dem das Plasma mit einem starken Magnetfeld eingeschlossen wird. Ein anderer ist die Laserfusion, bei der kleine Wasserstoff-Kugeln durch Laserbeschuss zur Fusion gebracht werden. Bisher ist offen, ob und welcher davon wirtschaftlich funktioniert. Wie geht Gauss Fusion mit dieser Ungewissheit um?
Anfänglich war uns egal, welche Technologie es ist. Wir haben uns daher alle Ansätze unvoreingenommen angeschaut. Ganz nüchtern betrachtet ist der Magnetische Einschluss die Technologie, die am längsten für zivile Zwecke erforscht wurde. An der Lasertechnologie wurde zwar auch geforscht, aber eher für militärische Zwecke. Daher haben wir uns für den magnetischen Einschluss entschieden, da diese Technologie am weitesten fortgeschritten ist.
Aber auch beim Magnetischen Einschluss gibt es noch mal zwei unterschiedliche Konzepte. Der internationale Reaktor ITER setzt auf die intensiver erforschte Bauweise Tokamak. Sie haben sich für das weniger erforschte Konzept Stellarator entschieden, auf dem auch der berühmte Forschungsreaktor Wendelstein 7-X in Greifswald beruht. Warum?
Wir haben beide Konzepte untersucht und am Ende haben die Kosten das Rennen gemacht. In einem Stellarator läuft der Betrieb konstant. Der Tokamak hingegen arbeitet mit Pulsen, dadurch verschleißen die Materialien schneller. Das ist so, als wenn Sie von Berlin mit dem Auto nach München fahren und alle 50 Kilometer den Wagen aus- und wieder anschalten. Auch dann verschleißen die Materialien schneller. Dieser Verschleiß führt beim Tokamak-Konzept zu höheren Reparaturkosten als beim Stellarator und somit zu höheren Stromkosten.
Eine Herausforderung ist auch der zerstörerische Neutronenbeschuss durch die Kernfusion, der das Material eines Reaktors mit der Zeit spröde und unbrauchbar macht. Wie gehen Sie damit um?
Die Lebensdauer eines normalen Kraftwerks liegt normalerweise bei 50 bis 70 Jahren, aber bei Fusion halten die Materialien nicht so lange durch. Um die spröden Materialien zu ersetzen, können wir einen Reaktor nicht zwischendurch einfach mal für zwei Jahre vom Netz nehmen. Unsere Ingenieure planen, den Reaktor so zu konstruieren, dass betroffene Komponente alle fünf Jahre praktisch im laufenden Betrieb ausgewechselt werden können.
Kommen wir zum Brennstoff Tritium, ein radioaktives Isotop des Wasserstoffs, und äußerst schwierig herzustellen. Haben Sie dafür auch eine Lösung?
Wir arbeiten daran. Tritium ist das größte Problem bei der Fusion. Man weiß zwar, wie man Tritium herstellt, nämlich indem man Lithium mit Neutronen beschießt. Aber dann wird es kompliziert. Denn das natürlich vorkommende Lithium ist überwiegend Lithium-7. Um Tritium zu erbrüten, benötigt man jedoch das seltenere Isotop Lithium-6. Man kann Lithium-6 aus Lithium herausfiltern, aber die am meisten bekannte Methode benötigt viel Quecksilber. Und das ist sehr umweltschädlich und riskant. Damit will man eigentlich gar nichts zu tun haben. Als Unternehmen wollen wir dieses Problem daher als erstes angehen und lösen.
Wie ist Ihr Zeitplan?
Wir haben unser Projekt in drei Phasen eingeteilt. Die erste Phase, in der wir gerade sind, geht bis Ende dieses Jahres. Wir erstellen bis dahin ein Konzept, wie alles funktionieren soll. Zum Beispiel, wie wir das Tritium herstellen wollen. Danach kommen sieben Jahre, in denen wir anfangen, Prototypen zu bauen. Danach kommt die dritte Phase, der Bau und die Inbetriebnahme. Diese Phase soll Anfang der 2040er-Jahre abgeschlossen sein.
Das klingt nach viel Forschung und Aufwand. Mit welchen Kosten rechnen Sie?
Wir reden von etwa 15 bis 18 Milliarden Euro. Was eigentlich nicht so viel ist. Die ersten Atomkraftwerke haben genauso viel gekostet, um sie zu entwickeln und zu bauen. Die Finanzierung soll überwiegend durch Public-Private-Partnerships (Kooperationsvereinbarungen zwischen öffentlichen Einrichtungen und privaten Unternehmen, Anm. d. Red.) erfolgen.
Mit Milena Roveda sprach Kai Stoppel