Nord- und Ostsee sind voller Weltkriegsmunition. Millionen Tonnen an Bomben, Granaten und Raketen liegen auf dem Meeresboden. Ihre giftige Ladung breitet sich im Wasser und in Meeresfrüchten aus. Die Bergung soll jetzt endlich in Angriff genommen werden.
Surfer, Segler oder Taucher gleiten jeden Tag in der Nord- und Ostsee über Deutschlands explosives Erbe. Nur wenige Kilometer von den Stränden und Dünen entfernt liegt Munition aus den Weltkriegen verstreut. Teilweise nur 20 Meter unter der Meeresoberfläche schlummern Minen, Granaten, Patronen, Raketen, Munitionskisten und auch Hunderte Kilo schwere Fliegerbomben.
In der Ostsee sind sie sogar ganz offen sichtbar auf dem Meeresboden verstreut. "Wenn die Segler wüssten, worüber sie fahren, würden sie sich wahrscheinlich nicht ganz so frei bewegen", sagt Jens Greinert vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel. "Das ist nicht weit weg und auch nicht tief." Wer tauche, könne auch ohne Schnorchel Munition jedes Kalibers bergen. "Keiner würde es merken."
In der deutschen Ostsee liegen rund 300.000 Tonnen Munition auf dem Meeresboden, in der deutschen Nordsee 1,3 Millionen Tonnen - insgesamt 1,6 Millionen Tonnen. Das reicht aus, um einen 1000 Kilometer langen Güterzug von Berlin bis nach Paris zu befüllen.
"Gesamte deutsche Ostsee munitionsbelastet"
Der Großteil der Munition wurde vor 80 Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in die Meere gekippt, um Deutschland zu entwaffnen. Dazu kommen Seeminen aus dem Krieg, Munition, die mit Schiffen untergegangen ist und Blindgänger von Bombenangriffen an der Küste.
Die meisten chemischen Kampfstoffe haben die Alliierten tiefer in Nord- und Ostsee versenkt, im Bornholm-Tief, im Gotland-Tief oder im Skagerrak, weiter weg von der deutschen Küste.
Damals wurden Flächen bestimmt, wo die Munition hin sollte. Aber schon auf dem Hin- und Rückweg dorthin wurden Sprengkörper über Bord geworfen, erklärt Greinert. "Die Navigation auf See war wahrscheinlich nicht so genau wie heute. Die Fischer wollten vielleicht auch ein bisschen früher zu Hause sein." Einiges an Munition liege außerhalb der offiziellen Versenkungsflächen. "Die gesamte deutsche Ostsee muss als munitionsbelastet angesehen werden, mit Hotspots in den Versenkungsgebieten, genauso war es in der Nordsee."
Sprengstoffhüllen wie löchriger Käse
Die alten Bomben und Minen liegen nicht friedlich im Wasser. Ihre Hüllen verrosten oder verrotten langsam, sehen teils aus wie ein löchriger Käse. Stürme und steigende Temperaturen lassen sie schneller zerfallen. Das Problem: In den alten Sprengkörpern schlummern giftige Sprengstoffe wie das krebserregende TNT und chemische Kampfstoffe wie Senfgas, Phosgen, Sarin und Tabun. Diese lösen sich im Wasser auf und breiten sich aus. Jahr für Jahr steigt die Konzentration im Meer. Auch im Sediment - den Ablagerungen auf dem Meeresboden - sind die chemischen Stoffe nachweisbar. Dort ist die Munition teils metertief eingesunken. Besonders hohe TNT-Konzentrationen hat das Geomar-Zentrum in der Kieler Bucht gemessen.
Jahrzehnte, nachdem sie versenkt wurden, richten die Substanzen Schaden an: Tiere wie Fische und Muscheln nehmen sie auf und werden krank - hauptsächlich, weil sie ihnen eine lange Zeit ausgesetzt sind.
Wenn wir die Tiere essen, landen die gelösten Sprengstoffe am Ende auch in unserer Nahrungskette. Das Gesundheitsrisiko nehme in den nächsten Jahren zu, sagt Jennifer Strehse, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. "Muscheln, die sich mehrere Wochen oder Monate in einem Munitionsversenkungsgebiet aufgehalten haben, nehmen Konzentration auf, die für den menschlichen Konsumenten von Meeresfrüchten gefährlich sein können." Es bestehe die Gefahr, an Krebs zu erkranken.
In Fischen außerhalb der Versenkungsgebiete seien niedrigere Konzentrationen nachgewiesen worden, erläutert Strehse. Diese stellten für Menschen keine Gesundheitsgefahr dar.
Sprengung tötet Tiere
Die Wissenschaft ist sich einig: Die alte Munition muss aus Nord- und Ostsee entfernt werden. Aber wie kann man sie rausholen, ohne Schaden anzurichten? Wie auch an Land kümmern sich in Deutschland Kampfmittelräumdienste und private Räumfirmen um die alten Sprengsätze. Sie werden gerufen, wenn die Munition eine Fahrrinne für Schiffe blockiert und oder dort liegt, wo Pipelines oder Offshore-Windparks gebaut werden sollen. Meist werden die Sprengsätze von Tauchern, Tauchrobotern oder Unter-Wasser-Baggern geborgen und danach entsorgt.
In der Nordsee ist das schwieriger, weil viele Bomben metertief ins Sediment eingesunken sind. Deshalb und durch die schiere Menge an Munition ist es unmöglich, jeden Sprengkörper zu bergen und an Land zu entsorgen. Unter Wasser können die Bomben und Blindgänger aber auch nicht entschärft werden. Es sei zu kritisch, den Zünder rauszuschrauben, sagt Helmholtz-Forscher Greinert.
In Ländern wie Spanien und Italien ist es nach wie vor üblich, die Munition einfach zu sprengen. Aber auch davon rät Toxikologin Strehse ab. Denn der Sprengstoff setze sich nicht komplett um. "Durch das Sprengen wird die Kontamination in ein noch größeres Areal verteilt." Zudem könnten Meereslebewesen wie Schweinswale, die einen sehr guten Gehörsinn haben, Schaden nehmen oder durch die Druckwelle getötet werden. In Deutschland dürfe Munition daher nur noch mit einem dämpfenden Blasenschleier gesprengt werden.
Pilotprojekt in der Lübecker Bucht
Einzelne Sprengkörper sind das kleinere Problem. Bedenklich sind Munitionshaufen, in denen verschiedenste Arten von Sprengkörpern durcheinander- und übereinanderliegen, wie bei einem Mikado-Spiel. Teils verbuddelt, teils schon aufgelöst.
Hunderte von ihnen rosten auf dem Meeresboden der Lübecker Bucht. Dort testet das Bundesumweltministerium seit vergangenem Sommer in einem Pilotprojekt, wie man solche Munitionshaufen systematisch bergen kann - erfolgreich. Die Technik soll jetzt noch verbessert werden. Tests soll es diesen Sommer auch noch in der Mecklenburger Bucht geben, dieses Mal in einem alten Wrack.
Der nächste Schritt in dem Projekt ist eine schwimmende Plattform: Eine riesige Entsorgungsanlage, auf der große Mengen alter Munition direkt auf dem Meer entsorgt werden können. In etwa anderthalb Jahren könnte die Plattform einsatzbereit sein. Ein einmaliges Projekt, sagt Steffi Lemke im "Klima-Labor" von ntv. Die frühere Bundesumweltministerin hat das Projekt vorangetrieben. "Es wäre weltweit einsetzbar. Es gibt hohes Interesse daran, auch bei der EU-Kommission."
"Deutschland wollte nicht mit Schuldfrage konfrontiert werden"
Warum wird das Problem mit der giftigen Munition in Nord- und Ostsee erst jetzt angepackt, obwohl die belasteten Gebiete seit Jahrzehnten bekannt sind? Es hat gedauert, bis die Forscher bewiesen haben, dass die Substanzen aus der Munition nicht abgebaut werden, sondern gefährlich bleiben und lange Schaden anrichten. Diesen Beweis habe die Politik gebraucht, um aktiv zu werden, sagt Strehse. Das Projekt mit den Muscheln habe vor neun Jahren begonnen.
Zudem sei lange unklar gewesen, welches Bundesland oder ob der Bund für die Altlasten zuständig ist. Und wenn ja, welches Ministerium, meint Greinert. Erst in den vergangenen knapp drei Jahren habe sich das geklärt: das Bundesumweltministerium hat die Bergung übernommen und 100 Millionen Euro investiert.
Und nicht zuletzt ist da die Schuldfrage: "Deutschland eine gewisse Zurückhaltung an den Tag gelegt, um nicht mit der Schuldfrage konfrontiert zu werden und finanziell für die gesamte Räumung der Nord und Ostsee aufzukommen", meint Matthias Brenner von der Sektion Ökologische Chemie am Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Die ersten Projekte habe es deshalb auf EU-Ebene gegeben, bevor Deutschland nationale Projekte finanziert habe.
Es wird einige Jahre dauern, bis Nordsee und Ostsee von der giftigen Weltkriegsmunition befreit sind. Eine Generationenaufgabe, sagt das Bundesumweltministerium. Greinert denkt, das sei in den nächsten 20 Jahren zu schaffen. Er glaubt, dass die die deutschen Ostseegewässer bis Ende 2040 munitionsfrei sind.