Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde ein stetiger Zuwachs bei der Intelligenz der Menschen gemessen - bis Forschende in den 2010er Jahren eine Umkehr des Trends beschrieben. Wird die Menschheit wieder dümmer? Ein Psychologe erklärt ntv.de, ob etwas dran ist.
In den 2010er Jahren machten Forschende eine historische Entdeckung: Der gemessene Intelligenzquotient (IQ) schien plötzlich zu stagnieren - mancherorts nahm er sogar ab. Das war ungewöhnlich, da seit Beginn des 20. Jahrhunderts der Gesamt-IQ stetig angestiegen war. Dieser Anstieg wurde als "Flynn-Effekt" bezeichnet, nach dem Forscher, der sich als Erster intensiv damit beschäftigt hat. Man ging davon aus, dass Menschen im Laufe der Zeit immer intelligenter werden. Die überraschende Umkehr dieses Effekts wurde "Reverse-Flynn-Effekt" getauft. Erklärungsversuche gab es seitdem viele: von moderner Technik bis hin zu Hormonen. Aber ist der Effekt real? Werden wir wirklich immer dümmer?
"Es ist überhaupt nicht klar, ob es den Reverse-Flynn-Effekt wirklich gibt", sagt Jakob Pietschnig, Assoziierter Professor für Psychologie an der Uni Wien, zu ntv.de. Stattdessen habe die Zunahme der im Gesamt-IQ gemessenen Intelligenz in den 1980er Jahren angefangen, sich etwas erratischer zu verhalten. Das bedeute allerdings nicht, dass Intelligenz wirklich abnimmt und die Menschen dümmer werden, so Pietschnig.
Steigende Werte in bestimmten Bereichen
Die IQ-Werte in einigen Ländern würden sogar zunehmen, wie zum Beispiel bei Matrizenaufgaben in Österreich oder Vokabeltests in Deutschland, sagt Pietschnig. Diese Zunahmen von Intelligenz seien auch keineswegs Einzelfälle, sondern kämen häufiger vor als Abnahmen. "Abseits von einigen Bereichen, in denen die Intelligenz abnimmt, zeigt sich also immer noch ein konsistenter starker Flynn-Effekt, also eine Zunahme des Gesamt-IQs."
Wie misst man überhaupt Intelligenz? Der oft als Gesamt-IQ bezeichnete Intelligenzquotient setzt sich aus verschiedenen Arten von Intelligenz zusammen. "Man kann sich das vorstellen wie im Zehnkampf", so Pietschnig. "Die Leistung eines Sportlers wird in unterschiedlichen Disziplinen gemessen. Bei der Intelligenz ist es ähnlich." Vor den 1980er Jahren testeten die meisten Studien nur zwei Arten von Intelligenz. Das sei aber, als würde man im Zehnkampf am Ende nur die Punkte aus zwei Disziplinen werten, etwa Speerwerfen und Hürdenlauf.
Differenzierung von Intelligenz
Der Reverse-Flynn-Effekt deute daher nicht notwendigerweise auf eine Abnahme der Intelligenz hin, sondern nur auf eine Differenzierung. Das Problem bei bisherigen Tests: verschiedene Arten von Intelligenz seien verknüpft, weil etwa ein gutes Raumvorstellungsvermögen darauf schließen lässt, dass jemand auch starke Leistungen bei anderen Intelligenzarten zeigt, so Pietschnig. Diese Verknüpfung zwischen Gesamtintelligenz und einer Intelligenzart sei zwar immer noch stark, aber eine Differenzierung von Fähigkeiten innerhalb von Personen könne einen Reverse-Flynn-Effekt auslösen. Die Fähigkeiten der Menschen hätten deshalb aber nicht abgenommen, sondern seien nun differenzierter geworden.
Im Falle des Zehnkämpfers sei es so, als würde dieser nur noch Diskuswerfen trainieren. Seine Gesamtpunktzahl wird im Laufe der Zeit zwar abnehmen, im Diskuswerfen jedoch zunehmen. "Er ist deswegen kein schlechter Sportler, sondern jetzt einfach ein Diskuswerfer." Laut Pietschnig funktioniert Intelligenz genauso wie die Punktevergabe, nur nicht innerhalb von Personen, sondern zwischen Generationen, die so immer spezialisierter werden. "Das heißt nicht, dass sich jeder im Diskuswerfen spezialisieren muss, sondern dass andere im Speerwerfen, im 100-Meter-Lauf und im Hürdenlauf spezialisiert sind."
"Wir verdummen nicht"
Nimmt der Gesamt-IQ aber trotzdem ab? "Nein. Und wir verdummen auch nicht", erklärt Pietschnig. Vielmehr seien die Beobachtungen ein Ausdruck der großen Leistung der Menschen, sich sehr gut an ihre Umgebung anzupassen. "Wir bewegen uns mit diesen Intelligenz-Veränderungen nicht mehr aufwärts, sondern seitwärts." Dabei spiele die moderne Technologie durchaus eine Rolle: "Wenn wir heute eine große Expertise in einem spezifischen Bereich erwerben, belohnt die Umgebung das." Auch wenn das eben bedeutet, dass der Gesamt-IQ unter Umständen abnimmt.
Übrigens: Der Namenspate des Flynn-Effekts, der US-Politologe James R. Flynn, der viel dazu beigetragen hat, ihn zu dokumentieren, wollte nicht glauben, dass dieser sich umgekehrt haben könnte. Also untersuchte er im Jahr 2017 noch mal alle Daten, die er bekommen konnte. Schließlich änderte er seine Überzeugung und erklärte, der Gesamt-IQ in vielen westlichen Ländern sinke tatsächlich.