Er ist der "Chef der Chefsache" beim Eurovision Song Contest 2025. In Basel gibt Stefan Raab jedoch eher den Vorarbeiter als den CEO. Abor und Tynna müssen, sollen, dürfen oder wollen auch ohne ihn ballern.
Lena Meyer-Landrut und Stefan Raab - damals 2010 in Oslo muteten die beiden ein bisschen an wie Bonnie und Clyde. Partners in Crime, vereint bei ihrem Durchmarsch zum erst zweiten deutschen Sieg beim Eurovision Song Contest (ESC) überhaupt.
Die gerade mal 19-jährige Lena wusste womöglich nicht so recht, wie ihr geschieht. Heute sagt sie, sie sei überfordert gewesen. Doch damals schien zwischen sie und ihren gefühlt allgegenwärtigen Mentor kein Blatt zu passen. Unvergessen sind etwa die gemeinsamen Pressekonferenzen, die Lena mit ihrer erfrischenden Unverbrauchtheit ebenso aufmischte wie Raab mit seiner Klampfe. Von der triumphalen Heimkehr der beiden samt Empfang durch den damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff mal ganz zu schweigen.
15 Jahre sind seither vergangen. Wir schreiben das Jahr 2025. Lena hat sich vor Monaten krankgemeldet und ist seither abgetaucht. Raab dagegen ist voller Tatendrang zurück. Auch beim ESC, den er nun zur "Chefsache" erklärt hat. Vier Vorentscheid-Shows hat er durchgezogen, um den Act zu finden, der Deutschland im Sangeswettstreit wieder auf die Siegesstraße führen soll. Gefunden hat er die österreichischen Geschwister Abor und Tynna mit ihrem Song "Baller".
Früher war mehr Lametta
Doch eine vergleichbare Magie wie die, die seinerzeit das Duo Raab und Lena versprühte, zaubert das Trio nicht hervor. Das ist auch den Umständen geschuldet. Die Zeiten haben sich geändert. Noch ist der Lack vom ESC sicher nicht ganz ab, aber früher war definitiv mehr Lametta.
Die öffentlich-rechtlichen ESC-Macher müssen sparen. Vielleicht nicht bei der jedes Jahr wahnsinniger werdenden Bühne für die Show, aber beim ganzen Drumherum. Die illustren Pressekonferenzen etwa, in denen allen Kandidatinnen oder Kandidaten Raum zur Selbstdarstellung gegeben wurde, sind längst passé.
Aber es liegt nicht nur an einem Mangel an Gelegenheiten, dass Raab, Abor und Tynna zumindest öffentlich nicht zum flotten Dreier zusammengewachsen sind. Dann, wenn es Gelegenheiten dazu gäbe, werden sie jedenfalls auch nicht beherzt ergriffen.
Zwei Minuten Schalte
Das fing schon bei der Eröffnung des diesjährigen Song Contests in Basel an. Als Abor und Tynna während der Zeremonie am Sonntag über den türkisfarbenen Teppich flanierten, fehlte von Raab jede Spur. Zu einem Fan-Treffen am Tag darauf schickte der Entertainer seinen Ex-Praktikanten Elton mit. Als wiederum die Botschaften Deutschlands und Österreichs noch einen Tag später zu einem gemeinsamen Empfang mit den ESC-Stars der beiden Länder luden, war Raab zwar da. Doch er sprach allein zu den Gästen. Als Abor und Tynna hinzukamen, räumte er nahezu umgehend für sie die Bühne. Auch den anschließenden Interviews blieb er fern. Bewusst, wie es hieß. Die Aufmerksamkeit gebühre schließlich nicht ihm, sondern dem Geschwisterduo.
Am Mittwochabend nun meldete sich Raab beziehungsweise der "Chef der Chefsache" mit einer ESC-Sondersendung live aus Basel. Aus einer Strandbar namens "Sandoase", direkt am Rhein inmitten des Dreiländerecks gelegen, gab er dem Publikum bei RTL und auf RTL+ einen Einblick in seine Mission, Deutschland wieder auf den Gesangsthron zu hieven. Unterstützt wurde er dabei von den ESC-Granden Conchita Wurst, Nemo und Luca Hänni sowie Elton, der in Sachen Song Contest "leider noch nichts erreicht" hat.
Als Triumvirat präsentierten sich Raab, Abor und Tynna auch diesmal nicht. Gezeigt wurde etwa ein Einspielfilm, wie der Entertainer das Duo kurz nach seiner Ankunft in Basel im Bus zu einer ersten Probe begleitete. Eine Schalte zu den Geschwistern, während der die eben erst von einer Kehlkopfentzündung genesene Tynna erneut schweigend ihre Stimme schonte, dauerte exakt zwei Minuten.
Raab trägt Hornbrille
Ansonsten drehte es sich meist um die ESC-Erfahrungen der Gäste, die mehr oder weniger katastrophalen Wettbewerbsbeiträge anderer Länder oder Eltons Rhein-Ausflug mit einem Basler "Wickelfisch". Nur, weshalb Nemo eine Kreuzung von Kermit und dem Krümelmonster auf dem Kopf trug und ob Raab die Hornbrille im Einspielfilm inzwischen privat öfter aufsetzt, wurde nicht aufgeklärt.
Klar, Abor und Tynna stecken gerade bis zum Hals in den Proben. So war just die zweite Generalprobe für das zweite Halbfinale, in dem sie bereits in Aktion treten, im vollen Gange, als sie in die Sendung zugeschaltet wurden. Live im Studio zu sein, war ihnen daher tatsächlich unmöglich. Vorab einen Auftritt an der Seite Raabs aufzuzeichnen, der vielleicht etwas länger als zwei Minuten gedauert hätte, war es aber wohl nicht.
Die Zusammenarbeit mit Raab sei "sehr lässig" und "sehr motivierend", erklärte Abor im Interview mit ntv.de. Das klingt nicht gerade nach einem Vorgesetzten-Angestellten-Verhältnis. Statt bei der "Chefsache" wirklich in die Rolle des CEO zu schlüpfen, rackert sich Raab dann auch lieber als unermüdlicher Vorarbeiter ab, für seine Schützlinge, die eigentlich gar keine sind.
Einsatz als Kapellmeister
"Ich bettle auch gern ein bisschen für uns", umriss er in der Sendung den Schwerpunkt seines Einsatzes bei der ESC-Mission. Dafür, um 12 Punkte für "Baller" zu werben, gab er dann auch wirklich alles - von flehenden Bitten an das deutschsprachige Ausland über die Andeutung von Bestechungsgeldern bis hin zu einem Ausflug in die Basler Innenstadt, um dort als Kapellmeister zwischen Polizisten, Bank und Juweliergeschäft Reklame für Abor und Tynna zu machen.
Möglicherweise hat sich Raab Lenas Worte über ihre einstige Überforderung ja zu Herzen genommen. Möglicherweise ist der Funke zwischen ihm, Abor und Tynna nicht wirklich übergesprungen. Möglicherweise hat Raab sich eingestanden, dass in Deutschland (jedenfalls bisher) keine vergleichbare Euphorie wie 2010 ausgebrochen und sein Ziel des ESC-Siegs sehr hochgesteckt ist. Oder möglicherweise will sich der "Rambo Zambo"-Experte auch einfach nur wirklich zurücknehmen, um Abor und Tynna nicht ihrer Bühne zu berauben. Ob sie das nun sollen, dürfen oder wollen - die beiden müssen auch ohne ihn ballern. Raab gibt zwar alles, um für sie die Werbetrommel zu rühren, aber nichts, um mit ihnen als untrennbares Trio Infernale in die ESC-Geschichte einzugehen.