Israels Premier spricht von einem möglichen Regime-Wechsel im Iran infolge der israelischen Angriffe. Im Land wächst tatsächlich der Frust auf die Machthaber. Ein Aufstand der Menschen gegen die autoritäre Staatsführung scheint zumindest möglich.
Kilometerlange Staus, Tankstellen ohne Benzin: Angesichts immer neuer Luftangriffe, Anschläge und martialischer Drohungen der Netanjahu-Regierung fliehen zahlreiche Bewohner der iranischen Hauptstadt Teheran aus der Millionen-Metropole. "Die Einwohner Teherans werden den Preis zahlen - und zwar bald", droht Israels Verteidigungsminister Israel Katz am Montagmorgen, nachdem der Iran am Wochenende zahlreiche Raketen auf israelische Wohngebiete abgefeuert hat. Die israelische Führung dagegen reklamiert für sich, im Iran nur militärische Ziele ins Visier zu nehmen. Bilder und Nachrichten aus Teheran zeigen: Zivilisten wurden sehr wohl Opfer der am Freitag gestarteten israelischen Angriffe. Iranische Nachrichtenagenturen, die nicht frei berichten können, meldeten seither eine dreistellige Zahl an getöteten Menschen.
"Die Menschen sind verzweifelt. Sie wissen nicht, ob sie die Nacht überleben", berichtet der freie Journalist Farhad Payar im Gespräch mit ntv.de. Der ehemalige Redaktionsleiter des deutschsprachigen "Iran Journal" steht im Austausch mit anderen Journalisten und Menschen vor Ort. "Die Menschen schlafen in Autos, in den U-Bahn-Schächten und Bahnhöfen, weil es keine Luftschutzräume für sie gibt." Weder gebe es rechtzeitigen Luftalarm noch Luftschutzräume oder wenigstens offizielle Informationen zum richtigen Verhalten durch Behörden und Regierung.
Von Fluchtbewegungen aus Teheran sowie knapp gewordenem Benzin weiß auch der deutsch-iranische Journalist Bamdad Esmaili zu berichten. "Was am Anfang die Israelis gesagt haben, nämlich dass nur Regime-Leute getroffen werden, hat sich ja nicht bewahrheitet", sagt Esmaili bei ntv. "Mittlerweile sind auch viele Zivilisten unter den Opfern." Doch von der iranischen Regierung erführen die Menschen wenig, wie es nun im Land weitergehen soll. "Man hat das Gefühl, dass sie sich zum Teil verstecken", sagt Esmaili. Zahlreiche Anführer der offiziellen Streitkräfte sowie der eng mit dem Regime verknüpften Revolutionsgarden hat Israel in den vergangenen vier Tagen getötet, aus der Luft oder mittels Anschlägen.
Regime fürchtet den Aufstand
Die Ermordung des Oberhaupts des islamischen Regimes, Ayatollah Ali Chamenei durch die Israelis wurde nach eigener Darstellung nur von der US-Regierung gestoppt. Dennoch könnte Chameneis Zeit und die seiner Mitstreiter an der Spitze der islamischen Republik zu Ende gehen. Ein Regime-Wechsel "könnte sicherlich ein Ergebnis sein, weil das iranische Regime sehr schwach ist", sagt Israels Premier Benjamin Netanjahu am Sonntag dem US-Sender Fox. Israel wolle die existenzielle Bedrohung durch iranische Atomwaffen und ballistische Raketen beseitigen. "Wir können nicht zulassen, dass das gefährlichste Regime der Welt über die gefährlichsten Waffen der Welt verfügt", so Netanjahu.
Ein Macht- und Systemwechsel im Iran wäre demnach im Sinne Israels. Aber steigt die Wahrscheinlichkeit tatsächlich? "Ein Problem ist: Es gibt einfach keine Alternative zum Regime", sagt der Journalist Payar. Die oppositionellen Kräfte innerhalb und außerhalb des Iran seien vielstimmig, verfolgten unterschiedliche Ansichten und Ziele und seien teils untereinander zerstritten. Zudem ist den Menschen im Iran die gewaltsame Niederschlagung der im Herbst 2022 begonnenen "Frauen, Leben, Freiheit"-Proteste weiter präsent. "Das Regime kann weiter auf seine bis zu den Zähnen bewaffneten Schlägertrupps zurückgreifen", sagt Payar. Festnahmen, Folter, Hinrichtungen: Die Machthaber schreckten vor keiner Methode der Unterdrückung zurück.
Dennoch scheint die Staatsführung nervös zu sein und zu fürchten, dass die Proteste parallel zu den israelischen Angriffen zunehmen. "Schon jetzt hat der Staat die Sicherheitskräfte massiv verstärkt, um Proteste zu verhindern", sagt der Politologe Ali Fathollah-Nejad im Interview mit der "Welt". Zugleich befeuert die Regierung den Frust der Bevölkerung: Weil das Regime selbst wenig über die israelischen Angriffe informiert, tauschen die Menschen Informationen zum Geschehen über das Internet, an der staatlichen Zensur vorbei - auch um Möglichkeiten zum Selbstschutz zu finden. Payar hat in diesem Zusammenhang von 15 Verhaftungen erfahren, doch verifizieren ließen sich die Zahlen derzeit kaum.
Abschreckende Beispiele in direkter Nachbarschaft
Schon vor den israelischen Angriffen war die wirtschaftliche Lage im Iran katastrophal und die Stimmung schlecht. "Die Menschen haben den Eindruck, die Regierung habe mehr Geld für den Krieg gegen Israel und den Westen ausgegeben als für die eigene Bevölkerung", sagt Payar. Und nun, wo der Krieg eskaliert, werde offensichtlich, dass kaum bis gar keine Vorbereitungen getroffen wurden, um die eigene Bevölkerung im Kriegsfall zu schützen. Wie groß der Rückhalt der Bevölkerung für die Staatsdoktrin einer Vernichtung Israels ist, lasse sich nicht seriös feststellen, sagt Payar. Großen Enthusiasmus für das Thema hat er in seiner langjährigen Berichterstattung über den Iran jenseits der Hardliner nicht feststellen können.
Doch auch wenn der Rückhalt für die islamische Revolution durch die derzeitige Lage weiter bröckeln sollte, sind die Meinungen in der Opposition zu einem Regime-Wechsel durch die israelischen Angriffe sehr unterschiedlich. Am Samstag rief der Sohn des früheren Schahs und iranische Exil-Oppositionelle Resa Pahlavi die Menschen in seiner Heimat zu einem Bruch mit der Islamischen Republik auf. Er habe "dem Militär, der Polizei und den Sicherheitskräften gesagt: Brecht mit dem Regime", teilte Pahlavi mit. Doch die Monarchisten - Pahlavi will nach eigenen Angaben keine neue Monarchie - sind nur eine von vielen iranischen Gruppen, die den Ayatollah-Staat ablehnen.
"Es gibt Oppositionskräfte, die den Krieg befürworten, weil sie auf den Regime-Sturz hoffen", so Payar. Andere Kräfte lehnten die Angriffe auf die eigene Bevölkerung entschieden ab. Zudem würden Warnungen laut, dass ein von außen herbeigeführter Sturz der Machthaber den Iran ins Chaos stürzen könnte. So wie es Libyen, Irak und Afghanistan ergangen ist. Payar hält in der momentanen Lage viele Szenarien für denkbar. "Wenn die Menschen morgen auf die Straße gehen, weiß niemand, wer am Ende die Oberhand gewinnt." Beobachter halten es für möglich, dass sich die demokratischen Kräfte während eines landesweiten Aufstandes zusammenschließen. Dafür aber, so Payar, müssten sie auch internationalen Rückhalt spüren.