Sollten die US-Streitkräfte Europa verlassen, wäre der Kontinent massiv gefährdet. Es fehlen Hunderte Flugzeuge, Panzer, Flugabwehrsysteme. Eine Studie listet die drängendsten Investitionen auf.
Das Ausgleichen eines möglichen vollumfänglichen Abzugs der US-Streitkräfte aus Europa würde enorme Kosten verursachen. Um die bisher für den europäischen Raum vorgehaltenen Kräfte zu ersetzen, wären laut einer Studie des International Institute for Strategic Studies über die nächsten 25 Jahre bis zu einer Billion Dollar notwendig. Ergänzend zu den aktuellen Ausgaben der europäischen Staaten.
Besonders herausfordernd wäre demnach, einen Ersatz für die US-Fähigkeiten in der Luft und in maritimen Gefilden zu erreichen. Europa fehlen hier demnach - im Gegensatz zu bodengebundenen Systemen - die industriellen Voraussetzungen, um selbst schnell aufzurüsten. Um die Fähigkeitslücken angesichts der russischen Bedrohungslage schnell zu schließen, wären daher Einkäufe im Ausland - besonders bei US-Produzenten - notwendig.
Allein die notwendigen Neuanschaffungen würden sich auf Summen zwischen 226 Milliarden und 334 Milliarden Dollar belaufen - je nachdem, welche Modelle ausgewählt und welche Qualitätsanforderungen gestellt werden, hießt es. Der Posten auf der Einkaufsliste mit dem höchsten Preisschild wären 400 taktische Kampfflugzeuge mit bis zu 64 Milliarden Dollar, gefolgt von 20 Marineschiffen verschiedener Typen von bis zu 50 Milliarden Dollar.
Russland könnte Europa ab 2027 gefährden
Auch auf dem Feld der Flugabwehrsysteme oder bei Kampfpanzern und Helikoptern müssten die Staaten Gerät in großen Stückzahlen beschaffen. Die Kosten für den Ersatz der schätzungsweise 128.000 US-Soldaten würden sich der Denkfabrik zufolge auf zusätzliche 12,3 Milliarden Dollar jährlich belaufen.
Die Zahl umfasst die stationierten und für Nato-Einsätze auf dem Kontinent vorgesehenen Soldaten. In Europa verteilt sind derzeit rund 78.000 Soldaten stationiert, davon knapp die Hälfte in Deutschland.
Trotz der gewaltigen Summen umfasst die Studie nicht annähernd alle Kosten, die in Europa bei einem Rückzug der Trump-Administration entstehen würden. Nuklearwaffen sind beispielsweise nicht eingerechnet. Eine mögliche Ausweitung des in Großbritannien und Frankreich vorhandenen Potenzials an Nuklearwaffen würde einen weiteren Milliardenbetrag in Anspruch nehmen. Auch bei der Militärkoordinierung, Geheimdiensten und militärischer Aufklärung im Allgemeinen würden zusätzliche Kosten auf die Europäer zukommen.
USA vollziehen Hinwendung nach Asien
Die Studie geht in der Ausgangslage von einem Waffenstillstand im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine im Laufe des Jahres aus. Damit einhergehen könnte die Ankündigung der Vereinigten Staaten, sich langsam aus der Nato zurückzuziehen.
Die Wissenschaftler erklären, dass Russland seine militärischen Fähigkeiten nach dem Ende der Kämpfe rasant wieder aufbauen könnte. Demnach könnte Moskau ab 2027 eine "signifikante militärische Herausforderung" für die verbliebenen Nato-Verbünden darstellen. Besonders das Baltikum wird als mögliches Feld für eine Eskalation aufgeführt. Ein Truppenabzug der USA würde die europäischen Staaten somit zeitnah gefährden.
Und Anzeichen für einen solchen gab es wiederholt. Die Trump-Administration machte seit Januar immer wieder deutlich, dass sie ihren militärischen Fokus auf andere Regionen richten wird. Europa müsse lernen, auf eigenen Füßen zu stehen, wird aus Washington postuliert. Dabei handelt es sich um die Fortsetzung eines Prozesses, der bereits während der Präsidentschaft Barack Obamas mit der außenpolitischen Strategie "Pivot to Asia" (Hinwendung nach Asien) einsetzte. Der Verteidigungsminister Pete Hegseth erklärte jüngst bei einem Besuch von US-Truppen in Deutschland, dass Einigkeit darüber bestehe, dass man die "Streitkräftelage weltweit überprüfen werde".
USA legen Fokus auf China
Ein Memo des Pentagon-Chefs von Ende April untermauert die Entwicklung weg von Europa. Darin führt der Ex-Fox News-Moderator zwei vorrangige Aufgaben für die US-Truppen an. "Der Präsident hat uns einen klaren Auftrag erteilt: Frieden durch Stärke zu erreichen. Dafür muss die US-Armee der Verteidigung unseres Heimatlandes und der Abschreckung Chinas im indo-pazifischen Raum Vorrang einräumen", so Hegseth. Europa findet in dem mehrseitigen Dokument keinerlei Erwähnung.
Angesichts solcher Aussagen ist es fraglich, ob bereits vereinbarte zusätzliche Stationierungen von US-Einheiten in Deutschland Realität werden. So sollen ab dem kommenden Jahr zeitweilig weitreichende Waffensysteme der US-Multi-Domain Task Force in Deutschland stationiert werden - ausgestattet mit Raketen des Typs SM-6 und Tomahawk-Marschflugkörpern. Der Bundesrepublik selbst fehlen bisher entsprechende Waffengattungen, um die von Russland ausgehenden Bedrohungen zu kontern.
Ob die 2024 unter Biden geschlossene Vereinbarung weiter Bestand hat, wird von Experten bereits angezweifelt. Passend zu Hegseths-Strategie könnten diese auch bei einem asiatischen Partner der Vereinigten Staaten stationiert werden. Ausgerichtet auf China. Und Deutschland müsste hier zeitnah selbst in die Tasche greifen.