"Befreier von Auschwitz sind zu neuen Aggressoren geworden"

Der Bundestag gedenkt 80 Jahre nach dem Weltkriegsende der vielen Millionen Opfer. "Wir sind alle Kinder des 8. Mai", sagt Bundespräsident Steinmeier- und warnt mit Blick auf Putin und Trump vor einem "doppelten Epochenbruch". Die drastische Rede dürfte Wellen schlagen.

Zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs warnt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Bundestag eindringlich vor einer Rückkehr von Nationalismus, Diktatur und Krieg. Neben dem Wiedererstarken des Rechtsextremismus in Deutschland macht Steinmeier diese Gefahr ausgerechnet an jenen Staaten fest, die unter kaum vorstellbaren Opfern die Niederlage des Hitler-Faschismus herbeigeführt hatten. "Die Befreier von Auschwitz sind zu neuen Aggressoren geworden", sagt Steinmeier über Wladimir Putins Russland. Dass sich zugleich die USA von der internationalen Ordnung auf Basis des Völkerrechts "abwenden, ist eine Erschütterung von ganz neuem Ausmaß".

Steinmeier wagt sich mit seiner Rede auf dünnes Eis: ein deutscher Staatschef, der am Tag des Gedenkens an die deutschen Verbrechen die Regierungen der USA und Russlands belehrt? Ein Versehen ist das nicht, 40 Jahre nach der historischen Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Der hatte damals gesagt: "Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft." Diese Sätze waren damals hochumstritten. Über Monate hatte Steinmeier nun seine Rede vorbereitet, sich dazu mit dem deutschen Philosophen Jürgen Habermas und dem bulgarischen Politologen Ivan Krastev ausgetauscht.

Steinmeier wendet sich gegen Putins "Geschichtslüge"

"Wir alle sind Kinder des 8. Mai", sagt Steinmeier nun unter Berufung auf ein Gespräch mit dem 95-jährigen Habermas. Die Deutschen - "in Ost wie West" - hätten Jahrzehnte gebraucht, um sich "innerlich befreien" zu können. "Es waren Deutsche, die diesen verbrecherischen Krieg entfesselt und ganz Europa mit in den Abgrund gerissen haben", sagt Steinmeier. "Und es waren Deutsche, die nicht willens und nicht fähig waren, selber das Joch des NS-Regimes abzuwerfen." Amerikaner, Briten, Franzosen sowie die Rote Armee mit Soldaten aus Russland, der Ukraine, Belarus und anderen Nationen mussten daher "das NS-Regime unter Aufbietung aller Kräfte und mit vielen Opfern" bezwingen, so Steinmeier.

Deutschland werde das nicht vergessen und trete gerade deshalb "den heutigen Geschichtslügen des Kreml entschieden entgegen". Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine sei anders als behauptet "keine Fortsetzung des Kampfes gegen den Faschismus", auch wenn dies bei den russischen Feierlichkeiten am 9. Mai sicher wieder behauptet werde. "Diese Geschichtslüge ist nichts als eine Verbrämung imperialen Wahns, schweren Unrechts und schwerster Verbrechen."

Deutschland werde weiter die Ukraine unterstützen, denn: "Ließen wir die Ukraine schutz- und wehrlos zurück, hieße das, die Lehren des 8. Mai preiszugeben." Die AfD-Abgeordneten klatschen während dieser Passage zur Ukraine nicht, auch nur wenige der Linken-Fraktion. Beide Parteien lehnen die militärische Unterstützung der Ukraine ab.

"Ein doppelter Epochenbruch"

Doch es ist eben nicht nur Putin, mit dem Steinmeier hart ins Gericht geht, sondern auch die US-Regierung um Donald Trump. Die internationale Ordnung auf Basis des Völkerrechts sei bei allen Schwächen und Widersprüchen die Konsequenz aus den Erfahrungen zweier Weltkriege gewesen. "Dass sich nun ausgerechnet auch die Vereinigten Staaten, die diese Ordnung maßgeblich mitgeprägt haben, von ihr abwenden, ist eine Erschütterung von ganz neuem Ausmaß", sagt Steinmeier. "Deshalb rede ich von einem doppelten Epochenbruch - der Angriffskrieg Russlands, der Wertebruch Amerikas."

Seit Trumps Amtsantritt hatte dieser mehrmals mit einer Annexion Kanadas, Grönlands, des Panama-Kanals und des Gaza-Streifens kokettiert. In seinem Online-Shop verkauft er Fanartikel mit der Aufschrift "Trump 2029 (Rewrite the Rules)", übersetzt: "Schreibt die Regeln um". Nach zwei Amtszeiten darf der 78-Jährige zur Präsidentschaftswahl 2028 laut Verfassung nicht erneut antreten. "Wir sehen mit Schrecken, dass selbst die älteste Demokratie der Welt schnell gefährdet sein kann, wenn die Justiz missachtet, die Gewaltenteilung ausgehebelt, die Freiheit der Wissenschaft angegriffen wird", sagt Steinmeier.

Seine scharfe Kritik am US-Präsidenten erfolgt kurz bevor der neue Bundeskanzler Friedrich Merz erstmals mit Trump telefonieren will und eine Basis für Zusammenarbeit finden muss - auch wenn Merz selbst schon wiederholt Kritik an Trump geäußert hat.

Die AfD ist mitgemeint

Mit seinen Attacken gegen andere Staaten ausgerechnet an diesem Datum riskiert Steinmeier, dass andere wesentliche Aspekte seiner Rede etwas unterzugehen drohen. Dabei sind sie nur Aspekte einer weiter gefassten Analyse, wie schwach Rechtsstaatlichkeit und Demokratie dieser Tage dastehen. "Wir schauen auf unser Land, in dem extremistische Kräfte erstarken. Sie verhöhnen die Institutionen der Demokratie und diejenigen, die sie repräsentieren."

Auch ohne namentlich genannt zu werden, dürften sich damit die AfD-Abgeordneten gemeint fühlen, die die Bundestagssitze rechts von Steinmeiers Pult füllen. Sie verzichten fast geschlossen auf Applaus. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat gerade die Partei als "gesichert rechtsextremistisch" eingestuft. Die allermeisten Mitglieder der seit Februar auf 151 Mitglieder angewachsenen AfD-Fraktion sind an diesem Tag im Bundestag anwesend.

"Sie betreiben das Geschäft mit der Angst. Sie hetzen Menschen gegeneinander auf. Sie erwecken alte böse Geister zu neuem Leben", sagt Steinmeier über die extremistischen Kräfte in Deutschland. Er wendet sich gegen Forderungen nach einem "Schlussstrich". Auch diese sind in der einen oder anderen Form immer wieder aus der AfD laut geworden. Da war etwa der Ruf von Björn Höcke nach einer "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad". Und mehrere AfD-Politiker, darunter Co-Parteichefin Alice Weidel, sprachen mit Blick auf das Holocaust-Gedenken von einem "Schuldkult". Das erwähnt auch Steinmeier: Er wundere sich über diesen Begriff. Einige AfD-Abgeordnete tauschen Blicke aus, bleiben aber still.

"Gerade weil wir uns erinnert haben, ist nach 1945 aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs ein neues, ein geeintes Europa erwachsen, das Lehren gezogen hatte aus der Katastrophe", argumentiert Steinmeier. "Flüchten wir nicht aus unserer Geschichte", appelliert er, denn: "Wir wissen, wohin Abschottung führt, aggressiver Nationalismus und die Verachtung vor demokratischen Institutionen."

Angesichts des wachsenden Autoritarismus in Deutschland, Europa und der Welt müsse sich Deutschland erst recht gerade machen: "Wenn andere Demokratie, Freiheit, Recht einschränken, verteidigen wir sie erst recht." So finden in Steinmeiers Rede das damals so umstrittene Zitat Weizsäckers mit den Zuständen 40 Jahre später zusammen. "Von außen kann uns heute niemand die Freiheit schenken", sagt der Bundespräsident. "Wir müssen selbst für sie einstehen." Was ermutigend klingen soll, ist ein ernüchterndes Fazit: Die verbliebenen Demokratien stehen plötzlich ziemlich schutzlos da in der Welt- und ausgerechnet Deutschland ist bei aller eigenen Verunsicherung ihr mächtigster Alliierter.