Könnte die Ukraine eine eigene Atombombe bauen?

Die Ukraine will in Zukunft sicher vor russischen Angriffen sein. Eine Nato-Mitgliedschaft scheint ungewiss. Könnte das Land eine eigene Atombombe bauen? Ein Experte hat in einer Analyse durchgespielt, ob das machbar wäre - und welche Folgen es hätte.

Der frühere US-Präsident Bill Clinton bedauert heute, dass er der Ukraine die Atomwaffen ausgeredet hat. "Ich fühle mich mitverantwortlich, weil ich sie [die Ukraine] dazu gebracht habe, ihre Atomwaffen aufzugeben", sagte er in einem Interview ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion. Clinton hatte das Budapester Memorandum von 1994 ausgehandelt, bei dem Kiew im Tausch gegen Sicherheitsgarantien seine Atomwaffen an Russland übergab. Hätte die Ukraine sie behalten, so Clinton, hätte Russland niemals angegriffen.

Was die Frage aufwirft: Könnte sich die Ukraine nicht einfach Atomwaffen zulegen, um sich in Zukunft vor weiteren russischen Angriffen zu schützen? Schließlich sind Atommächte von großangelegten Invasionen stärkerer Gegner bisher verschont geblieben. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj betonte in der Vergangenheit, dass nur zwei Dinge der Ukraine auf Dauer Sicherheit verschaffen könnten: eine Nato-Mitgliedschaft oder Atomwaffen.

Der Militärexperte Alexander Bollfrass vom britischen Thinktank International Institute for Strategic Studies hat in einer detaillierten Analyse durchgespielt, wie der Weg zu einer ukrainischen Bombe aussehen könnte. Kurzfazit: Theoretisch sei die Ukraine dazu in der Lage. Doch sie sähe sich bei der Umsetzung mit gewaltigen technischen und politischen Herausforderungen konfrontiert.

Das Material: Die Ukraine verfüge im Kernkraftwerk Tschernobyl über reichlich abgebrannte Brennstäbe, die waffenfähiges Plutonium enthalten, schreibt der Experte. Daraus könne innerhalb eines Jahres genug Material für die Herstellung einer einzigen Waffe gewonnen werden. Allerdings sei dafür der Aufbau von Aufbereitungsanlagen im industriellen Maßstab notwendig. Sollte die Ukraine statt auf Plutonium auf die Anreicherung von Uran setzen, müssten noch umfangreichere und damit teurere Anlagen gebaut werden.

Geheimhaltung: Der Ukraine werde es nicht möglich sein, im Verborgenen eine Atomwaffe zu entwickeln, urteilt Bollfrass. Die dafür nötigen Industrieanlagen ließen sich kaum verstecken. Zudem stünden alle auf ukrainischem Territorium vorhandenen spaltbaren Materialien derzeit unter strenger Aufsicht der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA), sagte er dem Magazin "Forbes". Grund dafür sind die Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag. Das Abzweigen von Reaktorbrennstoff oder Plutonium für ein Atomwaffenprogramm würden die IAEA-Inspektoren sofort entdecken, was auch Russland alarmieren würde.

Nötige Trägersysteme: Aus Sicht von Sicherheitsexperte Bollfrass müsste die Ukraine für eine nukleare Abschreckung neben Sprengköpfen über "glaubwürdige" Trägersysteme wie Raketen, Marschflugkörper oder Flugzeuge verfügen. Dafür könnte Kiew zwar auf Know-how früherer ballistischer Raketenprogramme aufbauen: Das Unternehmen Juschmasch in der Stadt Dnipro hatte bis vor Kurzem Trägerraketen für Satelliten hergestellt und früher auch atomar bestückbare Interkontinentalraketen. Dennoch seien weitere Jahre der Entwicklung und erhebliche Investitionen notwendig.

Eine Alternative wäre die Anpassung bestehender Marschflugkörper, wie die R-360 Neptun, so Bollfrass. Für den Einsatz von Flugzeugen kämen nur hochmoderne Typen in Betracht, die in der Lage seien, der russischen Flugabwehr zu trotzen. Der Experte vermutet daher, dass die Entwicklung eines zuverlässigen Trägersystems für Atombomben derzeit die "technologischen und finanziellen Grenzen" der Ukraine sprenge.

Politische Rahmenbedingungen: Um spaltbares Material zu Atomsprengköpfen verarbeiten zu können, müsste die Ukraine den Atomwaffensperrvertrag verlassen (wie Nordkorea 2003) und die IAEA-Inspektoren ausweisen, so Bollfrass. Das wiederum dürfte aus seiner Sicht internationale Reaktionen provozieren. Diplomatische Isolation und sogar wirtschaftliche Sanktionen wären mögliche Folgen. Die Unterstützung der Nato-Partne , die mit Blick auf Mitglieder wie Ungarn, die Slowakei und zuletzt auch die USA derzeit ohnehin auf wackeligen Füßen steht, könnte bröckeln.

Russische Gegenmaßnahmen: Nach Bollfrass' Überzeugung würde Russland nicht einfach tatenlos zusehen, wenn die Ukraine nach Atomwaffen strebt. Infrastruktur wie Anreicherungs- oder Aufbereitungsanlagen würden mit Sicherheit ein Ziel von russischen Angriffen, ist der Militärexperte überzeugt. Auch könnte sich Moskau angesichts ukrainischer Atombomben-Bemühungen für einen nuklearen Erstschlag entscheiden, bevor die Ukraine selbst über ein ausreichend großes Arsenal verfügt.

Fazit des Experten: "Die industriellen Anforderungen für die Herstellung von spaltbarem Material und die Montage eines Sprengkopfes auf Trägersystemen übersteigen die derzeitigen Kapazitäten der Ukraine." Darüber hinaus könne die Umleitung von Ressourcen in die nukleare Entwicklung die konventionellen militärischen Fähigkeiten schwächen und das Land kurzfristig noch stärker gefährden.

Andere Experten hatten sich in der Vergangenheit ähnlich zu einer ukrainischen Atombombe geäußert: technisch machbar, jedoch teuer und zeitintensiv, so lautet etwa der Tenor mehrerer Experten, welche von der Zeitung "Kyiv Independent" befragt worden waren. Zudem würde Russland wohl alles versuchen, um eine nuklear bewaffnete Ukraine zu verhindern. Dennoch äußerte Bollfrass gegenüber Forbes die Vermutung, dass die Ukraine ohne glaubwürdige Sicherheitsgarantien, wie sie eine Nato-Mitgliedschaft böte, langfristig tatsächlich versucht sein könnte, zu "nuklearer Selbsthilfe" zu greifen.