Damit eine Volkswirtschaft erfolgreich ist, muss sie sich ständig erneuern. Neue Unternehmen müssen entstehen, alte Firmen mit überholten Geschäftsmodellen müssen ihnen Platz machen. Eine aktuelle Studie zeigt, wie dieser Prozess in Deutschland erlahmt ist
Diese Statistik birgt nur auf den ersten Blick eine positive Nachricht: Jahr für Jahr wächst die Zahl der Unternehmen in Deutschland. Zwischen gut 12.000 und knapp 40.000 mehr Firmen werden gegründet, als durch Insolvenz oder Geschäftsaufgabe geschlossen werden - jedes Jahr. Laut dem Ökonomen Claus Michelsen trügt dieser Schein allerdings. Hinter dem positiven Saldo der Unternehmenszahlen verbirgt sich, dass sowohl die Zahl der Neugründungen als auch der Aufgaben seit 2009 stetig zurückgehen. Beides ist in Zeiten eines wirtschaftlichen Umbruchs problematisch.
"Damit Deutschlands Wirtschaft erfolgreich bleibt, müsste auch Deutschlands Unternehmenslandschaft sich stetig erneuern und verjüngen, doch sie verkrustet und veraltet", sagt Michelsen im Gespräch mit ntv.de. Der ehemalige Konjunkturchef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ist seit 2021 Chefökonom beim Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA). In einer Datenauswertung zu Gründungen und Unternehmensaufgaben in Deutschland bilanziert er gemeinsam mit seinem Kollegen Simon Junker: Damit der Standort Deutschland erfolgreich bleibt, brauche es angesichts der technologischen, demografischen und wirtschaftlichen Umbrüche "Veränderungen in den Unternehmen". "Junge Unternehmen" seien gefragt, die neue Ideen zum Erfolg führten. "Und es braucht Unternehmen, die neuen Ideen Platz machen", heißt es in der Studie, die ntv.de exklusiv vorliegt. Insolvenzen seien "keine Seltenheit im ökonomischen Umbruch - im Gegenteil, sie sind durchaus gewünscht".
Das Wirtschaftswachstum, schreiben die beiden Ökonomen, hänge eng mit dem Gründungsgeschehen zusammen. Und um dieses ist es in Deutschland schlecht bestellt. So sind die Gründungen nicht nur stark zurückgegangen, sie liegen auch weit unter dem Niveau anderer Länder. In Nordeuropa und in den baltischen Staaten würde im Vergleich zur Bevölkerungsgröße jedes Jahr ein Vielfaches an neuen Unternehmen gegründet.
Neue Arbeitsplätze schaffen, statt alte zu retten
2009 wurden in Deutschland noch mehr als 150.000 "wirtschaftlich bedeutende" Unternehmen neu gegründet. Gründungen etwa im Nebenerwerb werden dabei nicht berücksichtigt. 2022 erreichte die Zahl solcher Gründungen mit 115.000 einen Tiefpunkt. Trotz eines leichten Anstiegs in den beiden vergangenen Jahren sei eine Trendwende nicht erkennbar, so Michelsen. Im gleichen Zeitraum ging auch die Zahl der Unternehmensaufgaben stark zurück, in der Corona-Krise verstärkt durch staatliche Unterstützungsmaßnahmen und die teilweise Aussetzung der Insolvenzantragspflicht. Dass zuletzt auch wieder mehr Unternehmen pleitegehen oder auf anderem Wege schließen, erklären die Autoren mit einem "Nachholeffekt".
Zwischen dem Rückgang der Gründungen und dem der Betriebseinstellungen sieht Michelsen auch einen kausalen Zusammenhang. Junge und alte Unternehmen stünden im Wettbewerb um Ressourcen, vor allem um Fachkräfte. Unterstütze der Staat Unternehmen mit abnehmender Produktivität und veralteten Geschäftsmodellen, mache er es Newcomern schwer und bremse die notwendige Erneuerung der Unternehmen.
Die Gründe, warum in Deutschland vergleichsweise wenige Unternehmen gegründet werden, sind weitgehend bekannt. Michelsen und Junker nennen unter anderem die Bürokratie, schwierigen Zugang zu Gründungskapital, fehlende Risikobereitschaft und mangelnde Durchlässigkeit zwischen Wissenschaft und Unternehmen.
Daneben, sagt Michelsen im Gespräch mit ntv.de, sei es aber auch notwendig, dass die Politik das Scheitern von Unternehmen zulasse. "Politiker retten Unternehmen und Arbeitsplätze auch ein wenig aus Angst um die Stimmen der Betroffenen." Sinnvoller als diese "Politik der Angst" sei jedoch, den Wandel der Wirtschaft zu fördern. "Im Fokus sollte stehen, neue Unternehmen und Arbeitsplätze zu schaffen."