"Ich will nicht nett sein. Ich will ehrlich sein."

Die Augen der Welt richten sich auf die Klimakonferenz im brasilianischen Belém - zehn Jahre nach Verabschiedung des Pariser Klimaabkommens. Bundeskanzler Merz nahm am Gipfeltreffen teil, am Sonntag beginnt die eigentliche COP30, so der offizielle Name der 30. UN-Klimakonferenz. Im Interview mit ntv.de geht Grünen-Chef Felix Banaszak den Bundeskanzler für seinen Klimakurs hart an. Dass Merz so gerne betont, Töchter und Enkel zu haben, merke man seiner Klimapolitik nicht an, findet Banaszak. Der 36-Jährige hat selbst eine kleine Tochter und sagt: "Es gibt Konzerne, die ihr Geld damit verdienen, die Erde zu verwüsten. Deren Geschäftsmodell muss enden, wenn diese Welt für meine Tochter und alle anderen Kinder bewohnbar und lebenswert bleiben soll."

ntv.de: Herr Banaszak, welche Rolle wird Deutschland unter Bundeskanzler Friedrich Merz bei der Weltklimakonferenz einnehmen?

Felix Banaszak: Friedrich Merz reist mit leeren Koffern nach Belém. Der Bundeskanzler und seine Energie- und Wirtschaftsministerin Katherina Reiche planen den großen anti-ökologischen Rückschritt und verzocken Deutschlands klimapolitische Glaubwürdigkeit.

Woran machen Sie das fest?

Teile der Bundesregierung stellen ja offen die deutschen Klimaziele infrage, in Brüssel hat Herr Merz die ambitionierten Zwischenziele der EU für 2040 blockiert. Zusammen mit anderen europäischen Konservativen rüttelt er nun am Emissionshandel.

Die EU-Staaten haben sich erst im letzten Moment auf ihre CO2-Einsparziele einigen können. Welchen Anteil hat Berlin am Ergebnis?

Auch mit deutscher Unterstützung können sich die EU-Staaten jetzt von fünf Prozent des Klimaziels mit fragwürdigen Gutschriften aus dem außereuropäischen Ausland freikaufen, mehr als die Emissionen aller skandinavischen Länder zusammen. Das sind übrigens mehr als 100 Milliarden Euro an Investitionen, die jetzt nicht mehr in der EU stattfinden werden. Deutschland ist damit vom Treiber für eine ambitionierte europäische Klimapolitik zum Blockierer geworden. Das schränkt die Verhandlungsmacht der Europäischen Union im Gesamten ein - eine sehr bedrohliche Entwicklung. Im Bundeshaushalt steht nicht genügend Geld zur Verfügung, damit Deutschland weiter seine Zusagen zur Finanzierung internationaler Klima- und Biodiversitätspolitik erfüllen kann. Daraus werden andere Staaten ihre Schlüsse ziehen.

Ist Deutschland nicht eher zurück im Strom, nachdem Berlin mit seiner Klimapolitik zuvor auch oft isoliert war in Europa und der Welt?

Als führende Wirtschaftsmacht in der Europäischen Union hat Deutschland eine Vorbildfunktion. Wenn wir nachlassen, lassen alle nach. Ohne eine starke deutsche und europäische Position droht am zehnten Geburtstag des Pariser Klimaabkommens eine große Enttäuschung. Um nichts weniger geht es nämlich bei den Verhandlungen am Amazonas: um die Zukunft des Pariser Klimaabkommens.

Kann ein deutscher Kanzler darüber hinweggehen, wenn relevante Teile der EU die bisherige Klimapolitik so nicht mehr mittragen wollen?

Die Ampel hat den Green Deal von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unterstützt - gegen von der Leyens konservative Parteienfamilie EVP. Friedrich Merz dagegen hat sich auf die Seite der EVP geschlagen und lässt Ursula von der Leyen - immerhin ja seine Parteifreundin - im Stich. Deutschland müsste in so einer Lage vorangehen mit ambitionierter, aber solidarischer Politik, also gemeinsamen europäischen Klima-Initiativen zur Unterstützung ärmerer Mitgliedstaaten. Friedrich Merz hat sich aber entschieden, die Klimapolitik abzuwickeln.

In Gesetz gegossen wurde bislang eher wenig. Gibt es diese Rückabwicklung der deutschen Klimapolitik tatsächlich?

Relevante Teile der Union testen gerade sehr kalkuliert, wie weit sie gehen können. Da wird mal die Klimaneutralität infrage gestellt, mal der Emissionshandel, mal die Energiewende. Dass die SPD bei ihren vielen Konflikten mit der Union ausgerechnet beim Thema Klimaschutz Rückgrat beweist, will ich erstmal sehen.

Merz bekommt kaum Gegenwind, wenn er die Klimaneutralität von 2045 auf 2050 schieben will, wenn auch Resteuropa so weit sein muss. Liegt das Argumentationsproblem nicht bei den Grünen?

Für mich ist diese Haltung Ausdruck brutaler Ambitionslosigkeit. Seit wann ist es cool, so wenig wie möglich zu tun? Der Bundeskanzler betont gerne, Vater und Großvater zu sein. Seiner Klimapolitik merkt man das nicht an.

Sie sind Vater eines kleinen Mädchens.

Ich habe mich nach der Geburt intensiv auseinandergesetzt mit der Welt, in der meine Tochter leben wird. Mit den Freiheitseinschränkungen, mit zunehmenden Verteilungskämpfen, mit Gesundheitsschäden und mit den wirtschaftlichen Folgen der Klimakrise, des ökologischen Kollaps allgemein. Ich will ihr möglichst viel davon ersparen, das sehe ich als meine dringlichste Aufgabe. Mich bedrückt, dass das gerade nicht das Topthema in der Gesellschaft ist. Aber die grüne Partei ist in dieser Frage kein Konjunkturbetrieb. Wir bleiben dran. Von der Klimafrage hängt ab, ob die Erde den mehr als acht Milliarden Menschen noch ein gutes Zuhause sein kann.

Wenn die Folgen des Klimawandels die erste Welt weniger hart treffen als ärmere Regionen, macht es doch Sinn, sich auf die Verteidigung des wirtschaftlichen Vorsprungs zu konzentrieren, oder nicht?

Den wirtschaftlichen und technologischen Vorsprung hält Deutschland nicht, indem wir uns als Erfinder und Marktführer für Technologien von gestern feiern. Da ist der überholte Verbrennungsmotor nur ein Beispiel. Wir haben auch das Faxgerät erfunden. Aber das nutzt heute aus guten Gründen auch niemand mehr. Nicht alles, was in der Vergangenheit funktioniert hat, wird uns in die Zukunft führen. China zeigt uns mit seiner staatlichen Förderung für Zukunftstechnologien, wohin die Reise geht.

Auch in China sind neben Elektro-Pkw gerade Hybridantriebe sehr beliebt. Wäre es wirklich so schlimm, diese Brückentechnologie noch ein paar Jahre länger auch in der EU zu nutzen, wie es Union und SPD anstreben?

Die Debatte über das Verbrenner-Aus ist in Wahrheit nur ein Hebel, um die europäische Klimapolitik aufzukündigen und insgesamt neu zu verhandeln. Wer Europa kennt, weiß: Die Mehrheiten, die damals den Green Deal verabschiedet haben, gibt es nicht mehr. Nicht im Parlament und auch nicht im Rat. Am Ende der Debatte steht deshalb nicht die Frage, ob das Verbrenner-Aus etwas später kommt. Am Ende steht das komplette Aus der rechtzeitigen Umstellung auf Elektromobilität - und damit gefährden wir massiv die Arbeitsplätze in unserer Autoindustrie.

Die 30. Weltklimakonferenz findet am Amazonas statt. Die grüne Lunge der Welt könnte schon bald für immer kollabieren. Braucht es mehr Alarmismus?

Nicht Alarmismus, aber eine neue Schonungslosigkeit in der Benennung der Lage. Klimapolitischer Realismus, der sich darin erschöpft, die Alarmglocken schrillen zu lassen, steigert nur die Ohnmachtsgefühle. Es braucht auch Grund für Zuversicht. Die Probleme sind lösbar, der Kampf um jedes Zehntel Grad lohnt sich. Menschen werden sich freuen, in ergrünten Innenstädten zu leben. Eine funktionierende Bahn macht unser Land glücklicher. Für diese positiven Zukunftsvisionen Menschen zu mobilisieren, ist kein Widerspruch dazu, klar zu benennen, wo wir stehen. Zwei Beispiele nur: Mehr als eine Million Menschen haben sich ihre eigene Solaranlage an den Balkon geschraubt und sehen, wie das ihre Stromrechnung senkt. Und in vielen Kommunen füllen Windenergieprojekte die leeren Kassen. All das will Schwarz-Rot wieder rückabwickeln.

Die Verabschiedung des Pariser Klimaabkommens vor zehn Jahren führte zu regelrechter Euphorie. Wo ist die hin?

Große Zustimmung zu ambitionierter Klimapolitik gab es in einer Zeit, als die Ziele und Lösungen eher abstrakt schienen. Selbst der vorgezogene Kohleausstieg hat die meisten Menschen nicht direkt betroffen. Mit den Grünen in der Bundesregierung ist die Klimapolitik auch im Alltag der Menschen angekommen, in ihrer Garage und im Heizungskeller. Das bringt Reibung und erfordert viel Sensibilität. Wir haben die von Lobby-Interessen befeuerten Ängste unterschätzt und hätten die soziale Ausgestaltung der Klimapolitik früher und stärker in den Vordergrund stellen müssen.

Da ist Ihre Partei heute klüger?

Wenn es nach uns ginge, käme ein nach Einkommen und Regionen gestaffeltes Klimageld eher heute als morgen. Die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung müssen zu großen Teilen an die Haushalte ausgezahlt werden. Geringverdiener sollen mehr bekommen, Gutverdiener wie ich brauchen weniger. Dazu schlagen wir ein Social-Leasing vor. Damit könnten sich auch Menschen mit kleinem Einkommen für 100 Euro im Monat einen kleinen Elektrowagen leisten. Wir wollen Mieter entlasten, wenn Eigentümer teure Öl- und Gasheizungen weiterlaufen lassen, statt umzurüsten. Doch statt darüber für Akzeptanz für ambitionierte Klimapolitik zu sorgen, stellt die Bundesregierung den Emissionshandel infrage, weil die Preise steigen. Das ist ein durchsichtiger Move.

Führen Regelungen, wie Sie sie vorschlagen, nicht zu jener Art von Bürokratie-lastigem, staatlichem Mikromanagement, das viele Menschen ablehnen?

Wo der Staat entschlacken kann, ohne in seinen Zielen und Standards nachzulassen, soll er das unbedingt tun. Die Förderung mit Klimaschutzverträgen ist zum Beispiel viel zu aufwendig für mittelständische Unternehmen, das ginge viel einfacher. Aber machen wir uns nichts vor, manches ist vorgeschoben. Ein Tempolimit auf Autobahnen ist unbürokratisch, spart CO2 und führt wiederum zu sinkenden CO2-Preisen - die Union blockiert es trotzdem. Der Ausbau erneuerbarer Energien und des öffentlichen Nahverkehrs senkt ebenfalls den CO2-Preis. Je mehr und schneller wir dies tun, desto günstiger wird es am Ende für alle. Wir wollen alle Hebel nutzen, die Union setzt dagegen allein darauf, dass es teuer wird. Das wird nicht funktionieren.

Warum?

Es gibt in unserem Land viele, die genau schauen müssen, ob am Monatsende der Kinobesuch mit der Familie noch drin ist. Politik muss diesen Menschen die Sorge nehmen, dass die Kosten für den Umbau am Ende bei ihnen abgeladen werden.

Und wer soll stattdessen die Rechnung zahlen?

Wer's kann. Eine ganze Reihe von Unternehmen hat über Jahrzehnte sehr viel Geld damit verdient, diese Erde zu erhitzen. Einen relevanten Teil dieser Gewinne haben diese Unternehmen in Kampagnen investiert, damit ihre Geschäftsmodelle erhalten bleiben. Ich finde es nur fair, wenn diese Konzerne die Klimaanpassung in den Kommunen mitfinanzieren, damit demnächst nicht reihenweise Senioren bei 45 Grad im Schatten umkippen.

Rufen Sie den grünen Klassenkampf gegen das Großkapital aus?

Das ist nicht Klassenkampf, das ist Verursacherprinzip. Klimaschutz heißt, Gemeinwohlinteressen gegen finanzstarke Partikularinteressen durchzusetzen. So einfach ist das. Und dafür gibt es sehr breite Mehrheiten.

Würden Sie das in der von Ihnen oft genannten Düsseldorfer Eckkneipe auch so formulieren?

Da würde ich sagen: Es gibt Konzerne, die ihr Geld damit verdienen, die Erde zu verwüsten. Deren Geschäftsmodell muss enden, wenn diese Welt für meine Tochter und alle anderen Kinder bewohnbar und lebenswert bleiben soll. Wenn die Leute dann fragen, ob die Grünen jetzt Politik gegen die Wirtschaft machen wollen, sage ich: Bullshit, im Gegenteil! Wir haben keinen Konflikt zwischen Klimaschutz und Wirtschaft. Der Konflikt verläuft zwischen zukunftsorientierter und vergangenheitsorientierter Wirtschaft. Die Gaswirtschaft ist mit Frau Reiche happy, während die Erneuerbaren in die Röhre gucken.

Und daraus folgt?

Irgendwann muss man sich entscheiden, ob man die Interessen unserer Kinder oder die von ExxonMobil vertritt. Es braucht diese Zuspitzung, weil das Verstecken dieses Konflikts unehrlich ist. Es gibt eine Sehnsucht im Land nach ehrlicher Politik, nach Politik, die den Leuten keinen Quatsch erzählt. Ich will nicht nett sein. Ich will ehrlich sein.

Mit Felix Banaszak sprach Sebastian Huld