Angesichts der schrumpfenden Bevölkerung erlaubt die Ukraine doppelte Staatsbürgerschaften. Der Schritt könnte eine Möglichkeit sein, die Bevölkerungszahl zu stabilisieren.
Vergangene Woche war es so weit: Das ukrainische Parlament beschloss in der finalen Lesung das Gesetz zur doppelten Staatsbürgerschaft. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte dies schon vor seinem Amtsantritt 2019 im Wahlkampf versprochen. Dass es so lange gedauert hat, hatte unterschiedliche Gründe. Vor allem gab es Zweifel daran, ob die Verfassung die doppelte Staatsbürgerschaft erlaubt. Doch der ukrainische Staat muss dafür sorgen, dass Flüchtlinge, von denen viele realistischerweise auch nach Kriegsende nicht in ihr Heimatland zurückkehren werden, zumindest eine Verbindung zur Ukraine behalten.
Doppelte Staatsbürgerschaften sind schon lange Thema in der Ukraine, auch schon vor dem russischen Großüberfall am 24. Februar 2022. Ausdrücklich verboten waren sie zwar nicht - außer für Abgeordnete oder Beamte. Laut Gesetz gibt es in der Ukraine aber nur eine Staatsbürgerschaft. Dabei lebten schon vor 2022 Millionen von ethnischen Ukrainern oder Menschen mit ukrainischer Abstammung ohne ukrainischen Pass im Ausland - seien es Nachfahren der sogenannten "alten Diaspora" oder Menschen, die in den wilden 90er und Nuller Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion ihr Glück anderswo suchten. Viele gaben die ukrainische Staatsbürgerschaft auf, um eine neue Staatsbürgerschaft zu erlangen.
Der Krieg hat noch einmal vieles verändert, die demographische Krise verschärfte sich. Abwanderung, Armut, niedrigere Geburtenraten führten zu einem Bevölkerungsverlust. Die Bevölkerung des Landes schrumpfte nach offiziellen Statistiken von fast 52 Millionen 1992 auf 41 Millionen 2021. Die wirkliche Zahl dürfte kurz vor dem vollumfänglichen russischen Angriff noch etwas niedriger gelegen haben. Mittlerweile dürften sich nur noch rund 30 Millionen Menschen auf dem von Kiew kontrollierten Gebiet aufhalten.
Bevölkerung wird weiter schrumpfen
Das kürzlich geschaffene Ministerium für nationale Einheit geht von 31 bis 32 Millionen Menschen aus. Zugleich soll es nach dessen Angaben aktuell insgesamt mehr als 20 Millionen Menschen mit ukrainischer Abstammung im Ausland geben. Mehr als 4,3 Millionen davon genießen offiziellen Angaben zufolge temporären Schutz in der EU. Bald werden viele davon Anspruch auf die Staatsbürgerschaft eines EU-Landes haben.
Zwar sind bisher, abgesehen von den Monaten nach Kriegsausbruch, neue größere Flüchtlingswellen aus der Ukraine ausgeblieben. Auch nicht während der gezielten russischen Angriffe auf ukrainische Energieanlagen. Doch seit der Eskalation im Nahen Osten hat Russland seinen Luftkrieg gegen das ukrainische Hinterland noch einmal intensiviert. Ein Waffenstillstand an der Front ist weiter nicht in Sicht. So liegt es auf der Hand, dass die Bevölkerung der Ukraine weiter schrumpfen wird.
In etlichen EU-Ländern hätten sie den Verzicht auf die ukrainische Staatsbürgerschaft nachweisen müssen, um einen neuen Pass zu behalten. Früher war dies auch in Deutschland so. Aktuell müssten die Ukrainer den Verzicht auf ihren ursprünglichen Pass nicht mehr nachweisen. In der Ukraine hätten sie bei der Annahme eines deutschen Passes zwar gegen kein Gesetz verstoßen. Sie wären aber in einer rechtlichen Grauzone geblieben.
Männer droht Kriegsdienst
Wie viel das neue Gesetz bringt, ist daher fraglich. Männer ukrainischer Abstammung werden sich wohl kaum einen ukrainischen Pass ausstellen lassen. Denn dann kämen sie für den Kriegsdienst infrage. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land bis zur Aufhebung des Kriegszustand und damit verbundenen Generalmobilmachung nicht verlassen - und beantragen kann man den Pass nur in der Ukraine, nicht vom Ausland aus.
Ukrainer werden die doppelte Staatsbürgerschaft nur mit sogenannten "befreundeten Staaten" haben dürfen. Die Liste von diesen Staaten wird von der Regierung noch konkretisiert. Es ist jedoch davon auszugehen, dass diese aus EU-Ländern sowie aus Staaten bestehen wird, die Sanktionen gegen Russland eingeführt haben.
Spannend ist dabei das EU-Land Ungarn. Seit Jahren sind die Beziehungen kompliziert. Ungarn soll heimlich Zehntausende von Pässen an Bewohner des westukrainischen Transkarpatien ausgegeben haben. Dort lebt eine große ungarische Minderheit. In Transkarpatien haben etliche Lokalabgeordnete und Beamte einen zweiten Pass, das ist ein offenes Geheimnis. Eigentlich müssten sie strafrechtlich verfolgt werden. Die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft könnte die Beziehung zu Budapest etwas entspannen. Auch wenn ukrainische Beamte eigentlich weiterhin nur einen Pass besitzen dürfen.
In Russland und Belarus droht Verhaftung
Das Gesetz erlaubt auch eine erleichterte Einbürgerung für ausländische Soldaten, die für die Ukraine kämpfen. Generell müssen Ausländer mindestens fünf Jahre ununterbrochen in der Ukraine gelebt haben, um das Recht auf den ukrainischen Pass zu bekommen. Für ausländische Soldaten wird diese Frist bis auf ein Jahr verkürzt. Dies bedeutet aber nicht, dass übliche Prüfungen zur Kenntnis der ukrainischen Sprache und der Verfassung wegfallen. Auch hier ist unklar, wie viele der ausländischen Freiwilligen das Recht auf den ukrainischen Pass in Anspruch nehmen werden. Beim Erhalten der ukrainischen Staatsbürgerschaft werden sie vom Staat in erster Linie als Ukrainer betrachten und dürften das Land vorübergehend auch nicht verlassen.
Für die Staatsbürger der sogenannten "feindlichen Staaten" wie Russland und Belarus, die ebenfalls oft auf der ukrainischen Seite im Einsatz sind, gilt aber weiterhin: Sie müssen zunächst auf ihren aktuellen Pass verzichten, um den ukrainischen zu bekommen. Dafür müssten sie aber nach Belarus oder Russland fahren, wo ihnen eine Verhaftung droht. Deswegen dürfte in der Theorie der deklarative Verzicht gegenüber den ukrainischen Behörden ausreichen.
Wie gut dies jedoch in der Praxis funktionieren wird, ist ungewiss. Die Bewohner der teilbesetzten ukrainischen Gebiete, wo reichlich russische Pässe ausgegeben worden sind, betrifft dies nicht. Weil sie die russische Staatsbürgerschaft aus ukrainischer Sicht unfreiwillig aufgezwungen bekommen haben, werden sie von der Ukraine nur als Ukrainer betrachtet und dafür nicht strafrechtlich verfolgt.