Mit 37 Jahren wurde Jacinda Ardern zur jüngsten Regierungschefin der Welt. Nun spricht die Neuseeländerin in Berlin über ihr neues Buch, das 'Impostor-Syndrom', auch bekannt als Hochstapler-Neurose, als Antriebsmotor und Optimismus im großen Stil.
Als Jacinda Ardern vom Angriff Russlands auf die Ukraine erfuhr, wollte sie sofort handeln. "In Zeiten der Krise gehört es zu empathischer Führung, entscheidungsstark zu agieren", sagt die frühere Premierministerin Neuseelands. Im März 2022 verabschiedete Neuseeland Sanktionen gegen Russland. Einen Monat später entsandte Arderns Regierung ein C-130H-Hercules-Transportflugzeug nach Europa. Sich kollektiv zu engagieren, statt als Nation individualistisch voranzuschreiten, sei der Kern, so Ardern.
In einem lichtdurchfluteten Raum der Bertelsmann-Repräsentanz in Berlin spricht die inzwischen 44-jährige Ardern - blumiges Kleid, stylische Smartwatch und ein herzförmiges goldenes Medaillon um den Hals - vor Publikum. Eine bunte Truppe aus Journalisten, Bloggern, Feministinnen und Ernährungswissenschaftlern hängt an ihren Lippen, der Raum ist rappelvoll. Im Gespräch mit der Autorin Miriam Stein präsentiert sie ihr neues Buch "A Different Kind of Power" ("Eine andere Art der Macht").
Ein Buch, das allen gewidmet sei, "die weinen, sich sorgen und andere umarmen". Darin wirbt sie für Empathie - in einer Zeit, in der Turbulenzen in der Ukraine, im Nahen Osten und sogar auf in führenden US-Universitäten wie Harvard den Alltag erschüttern.
In den Medien außerhalb Neuseelands wird Ardern oft als Gegenbild zu US-Präsident Donald Trump dargestellt: jung, liberal, eine Frau. Ist ihr empathischer Ansatz auch ein Gegengewicht zur männlich dominierten US-Tech-Elite? Ihre Antwort ist diplomatisch: "Es gibt offensichtlich viel Aufmerksamkeit für bestimmte Führungspersönlichkeiten und bestimmte Führungsstile", sagt sie. "Ich neige jedoch dazu, mich nicht auf einzelne Personen zu konzentrieren, weil das, was passiert, in Wahrheit ein Ausdruck einer globalen Gesamtentwicklung ist."
Ardern zufolge gäbe es allerdings auch Alternativen zu dieser Entwicklung, etwa den kanadischen Premierminister Mark Carney oder den australischen Regierungschef Anthony Albanese. Ihre Führungsstile seien anders. Albanese spreche oft von "Conflict fatigue" ("Konfliktmüdigkeit") in den Wahlkreisgemeinden. In Wahlnächten betonten beide den Wert der "Kindness" ("Freundlichkeit"). "Es gibt also eine Chance auf Erfolg."
'Impostor-Syndrom' als Treibstoff
So wie andere auf Wellen des Erfolgs reiten, schien Ardern ihr ganzes Leben lang von einem anderen Motor angetrieben zu werden: dem 'Impostor-Syndrom', was man mit „Hochstapler-Neurose“ übersetzen könnte. Als Tochter eines Polizisten in Murupara, einer kleinen Stadt mit Motorradgangs, fühlte sie sich als Kind oft wie eine Außenseiterin. Ihre ältere Schwester und sie waren die Ersten ihrer Familie, die eine Universität besuchten.
Als jüngste amtierende Regierungschefin der Welt schrieb sie Geschichte. Sie war die erste Neuseeländerin, die während ihrer Kampagne für das Amt der Premierministerin schwanger wurde - eine Überraschung, sagt sie, nachdem mehrere Unfruchtbarkeitsbehandlungen zunächst erfolglos geblieben waren. Als erste Spitzenpolitikerin hatte sie ihre neugeborene Tochter bei der UN-Generalversammlung dabei.
Im Jahr 2018 gingen Bilder um die Welt, auf denen sie ihren damals drei Monate alten Säugling beim Nelson-Mandela-Friedensgipfel in New York im Arm hielt. Nach ihrem Auftritt brachte ihr Partner Clarke Gayford die Kleine zu ihr. Als sie das Kind im Erdgeschoss des Plenarsaals hochhob, prasselten aus dem gläsernen Medien-Aquarium über ihr die Kameraklicks nieder - ein Moment, der weltweit für Aufsehen sorgte. "Daraufhin richtete die UN einen eigenen Raum zum Stillen ein, der von Neuseeland gesponsert wurde", sagt sie.
Nach den Terroranschlägen in Christchurch im Jahr 2019, bei denen über 50 Menschen ums Leben kamen, nahm sie Kontakt zu einer Amtskollegin auf: Angela Merkel. Thema: Soziale Medien und Terrorismus. Ardern erwog, einen Gipfel zu organisieren, bei dem sie Staaten, Zivilgesellschaften und NGOs zusammenbringen wollte. Die damalige Bundeskanzlerin riet ihr, sich an den französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu wenden. "Sie hatte recht. Paris hatte zu der Zeit ein gutes Gespür für diese Themen", sagt Ardern. Zwei Monate nach den Anschlägen fand der Gipfel statt. Facebook-Chef Mark Zuckerberg blieb dem Treffen jedoch fern.
Über die Highlights ihrer politischen Karriere spricht Ardern mit der Eloquenz einer Person, die einen Debattierklub durchlaufen hat und lange Erfahrung im parlamentarischen Parkett hinter sich hat. Sie weiß, wie man ein Publikum packt und Metaphern so wählt, dass sie noch lange nachhallen. Während ihrer Amtszeit hat sie viele Höhen und Tiefen politischer Gezeitenzyklen durchgestanden. Oft wurde ihr gesagt, sie sehe müde, sogar erschöpft aus. "Vielleicht solltest du eine Meat Pie essen?", schlugen manche vor.
"Optimismus ist eine Entscheidungssache"
Im Jahr 2008 zog Ardern mit 28 Jahren als jüngstes Mitglied ins neuseeländische Parlament ein. Mit 42, im Winter 2023, trat sie als Premierministerin zurück - sie habe kein Benzin mehr "im Tank", sagte sie.
Besonders in letzter Zeit blieb sie von der Kritik der Kiwis nicht verschont. Auch fünfeinhalb Jahre nach Inkrafttreten des Verbots der meisten halbautomatischen Waffen war die Zahl der Gewalttaten weiter angestiegen. Zudem hatte sich die Netto-Staatsverschuldung Neuseelands zwischen 2019 und 2024 mehr als verdoppelt. Im Oktober 2023, neun Monate nach Arderns Rücktritt, endeten die Wahlen für ihre Labour-Partei in einem Desaster.
Am Ende der Präsentation wurde sie gefragt: "Kann man zu feinfühlig sein, um zu führen?" Oft habe man ihr gesagt, dass man sich in der Politik eine Rüstung zulegen müsse, um zu überleben, sagte Ardern. Doch im Laufe der Jahre sei sie zu dem Schluss gekommen, dass ein solches Vorgehen letztlich ein Kompromiss sei. "Ich bin mir selbst ziemlich treu geblieben, sogar in den schwierigsten Zeiten. Meine eigene Widerstandskraft habe ich jedoch unterschätzt. Man ist immer zu mehr fähig, als man glaubt."
In dunklen Stunden habe sie immer wieder Inspiration beim Antarktisforscher Ernest Shackleton gefunden, erzählt Ardern. Er ist vor allem für seine Expedition bekannt, bei der sein Schiff, die Endurance, im Packeis gefangen wurde und sank. Die Besatzung hatte hölzerne Rettungsboote, nur sehr wenig Proviant und Schlafsäcke aus Rentierfell - dennoch schafften sie es, 18 Monate zu überleben, bis sie letztendlich gerettet wurden. Ardern denke oft an Shackletons Worte: "Optimismus ist wahrer moralischer Mut." Es sei ein Akt des Mutes und eine Entscheidungssache, fügte sie hinzu. "Die Alternative dazu ist Gleichgültigkeit. Und wenn wir in der heutigen Zeit zulassen, dass Gleichgültigkeit in den Vordergrund tritt, ist das ein gefährlicher Zustand für die Politik."