Die Wähler haben sich in Massen von der SPD abgewandt. Doch eigentlich hat sich die SPD von den Wählern entfremdet. Denn sie hat wenig Ahnung, was die Leute bewegt. Zur Wahrheit gehört: Was soll die SPD tun oder lassen in einem polarisierten Land, in dem Politik niemanden mehr glücklich machen kann?
Nach der herben Wahlniederlage kündigte der selbstkritische Parteivorsitzende für die Sozialdemokratie "den dringend notwendigen Neuanfang" an. Die SPD, ließ er die Basis wissen, müsse "auf die zunehmende Angst, Überforderung und Verunsicherung in Teilen unserer Gesellschaft" reagieren. Seine wichtigste Mitstreiterin flankierte das Versprechen mit der Aussage: "Die sozialdemokratische Kernidee der Solidarität ist ein bedrohter Wert." Und weiter: "Wir müssen diesen Wert wieder neu aufladen und ins Zentrum unserer Politik rücken."
Die Beteuerungen könnten aus Reden vom SPD-Parteitag stammen, der gerade in Berlin begonnen hat. Sind sie aber nicht. Für "den dringend notwendigen Neuanfang" warb der gescheiterte Kanzlerkandidat Martin Schulz in einem Ende September 2017 verschickten Brief an alle Parteimitglieder. Für die Erneuerung der sozialdemokratischen "Kernidee" plädierte die später unter üblen Umständen als SPD-Vorsitzende zurückgetretene Andrea Nahles im April 2018 in einem "Spiegel"-Interview. Wochen zuvor hatte Olaf Scholz, damals Regierungschef in Hamburg, ein Thesenpapier unter dem Titel "Keine Ausflüchte! Neue Zukunftsfragen beantworten! Klare Grundsätze!" vorgelegt. Lars Klingbeil erklärte, "jeden Stein" umzudrehen, um die Partei inhaltlich und organisatorisch auf Vordermann zu bringen.
Im Juni 2018 folgte ein "unabhängiger", etwas mehr als 100 Seiten starker Bericht zur Lage der SPD mit der Überschrift "Aus Fehlern lernen". Der Neustart wurde darin als "Kraftakt" für Führung und Basis beschrieben. Unter "Verkrustungen aufbrechen" hieß es: "Das Denken in Lagern und Flügeln, in Parlamentarische Linke und Seeheimer, in Netzwerker, Refos und Stamokap ist eine Sichtweise von gestern." Die Verfasser rieten zur Abkehr vom "pragmatischen Mittelweg". Denn: "Die SPD muss sich wieder eine Haltung zulegen und daraus Politik ableiten."
Das Wunder endet vorzeitig
Im September 2021 geschah das Wunder: Die SPD gewann die Bundestagswahl, Olaf Scholz wurde Kanzler. Aber nicht, weil die Sozialdemokraten den "Kraftakt" geschafft und "Verkrustungen" aufgebrochen hatten, sondern weil die Union zerstritten war und mit Armin Laschet einen schwachen Kanzlerkandidaten hatte. Trotzdem riefen Klingbeil und die wie einst Nahles von den eigenen Genossen aus dem Amt gejagte Co-Vorsitzende Saskia Esken ein "sozialdemokratisches Jahrzehnt" aus. Das endete vorzeitig am 23. Februar 2025 mit dem bis dahin schlechtesten Wahlergebnis der SPD bei einer Bundestagswahl. Wesentlich zu tun hatte das damit, dass sich Kanzler Scholz dreieinhalb Jahre als exaktes Gegenteil von "Keine Ausflüchte! Neue Zukunftsfragen beantworten! Klare Grundsätze!" präsentierte.
Obwohl die SPD weiter an der Regierung beteiligt ist, sind seit dem Debakel die längst bekannten Erkenntnisse und Erklärungen wieder zu hören. Tim Klüssendorf, mit gut 90 Prozent offiziell zum Generalsekretär gewählt, hatte - vielleicht in Erinnerung an Klingbeils Aussage von 2017 - erklärt, dass "kein Stein auf dem anderen bleiben darf". Eine Woche vor dem Berliner Parteitag sagte Juso-Chef Philipp Türmer ntv.de: "Die zwei Grundprobleme der SPD sind die dünne inhaltliche Vision und ein massives Glaubwürdigkeitsproblem. Neue Personen müssen das besser machen."
Die wichtigen Ministerposten gingen trotzdem an bekannte Gesichter, der Parteivorsitz ebenso. Bärbel Bas ist nicht wirklich "neu", sondern war Bundestagspräsidentin. Klingbeil legte sogar eine brillante Karriere hin: Er ist Finanzminister ohne Schuldenbremse, Vizekanzler und weiterhin SPD-Chef, also ein Machtkonzentrat. Damit das Ergebnis zu seiner Wiederwahl zum Vorsitzenden einigermaßen okay ausfällt, räumte er auf dem Berliner SPD-Kongress noch einmal brav Fehler ein, um dann zu versichern, dass er "alles dafür tun will, dass unsere Partei wieder stark wird". Gebracht hat es nichts. Die Zustimmung von 64,9 Prozent war miserabel bis katastrophal, sie legt den Grundstein für weiteren Zoff.
Bas geht "vom Schlechtesten aus"
Ob das alles Glaubwürdigkeit und intern wie extern das Gefühl eines Neustarts vermittelt, darf bezweifelt werden. Bas äußerte offen ihre Vorahnung, dass sie in derselben unwürdigen Art gestürzt werden könnte wie ihre Vorgängerin Saskia Esken. Dem "Stern" sagte Bas: "Ich gehe gerne erstmal vom Schlechtesten aus und freue mich, wenn es anders kommt." Das ist ein Armutszeugnis für die männlich dominierte Parteispitze. Die Beifallsstürme auf die Lobeshymnen von Bas, aber insbesondere von Klingbeil auf Esken hatten einen hohen Fremdschämfaktor - unter denen, die klatschten, waren auch die, die die Ex-Parteichefin öffentlich demontierten und zu Fall brachten.
So etwas merken die Menschen natürlich - die Basis sowieso. Juso-Chef Türmer hatte Klingbeil deshalb schon vor dem Parteitag einen verbalen Kinnhaken verpasst, damit der nicht denkt, dass er schon alle überzeugt hat. "Ich kann mich an keine Person mit so viel Macht und Verantwortung in der SPD erinnern", sagte er. "Lars Klingbeil fordert einen Vertrauensvorschuss von der Partei ein, den er auf dem Parteitag begründen müssen wird. Er muss seine Perspektive auf eine mögliche SPD-Vision liefern und Antworten haben, wie sich die SPD gut für die Zukunft aufstellen kann."
Nimmt man das Wahlergebnis zum Maßstab, vertrauen Klingbeil zwei Drittel der SPD. Irgendwelche Visionen präsentierte er keine - Bas schon gar nicht. Während der Vorsitzende durchaus leidenschaftlich sprach, gab sich die Esken-Nachfolgerin so dröge und funktionärsmäßig, als wäre sie noch die auf Neutralität achtende Bundestagspräsidentin. Als das eigentliche Problem nannte sie, um zwei Beispiele aufzuzeigen, die auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich. "Da müssen wir ran, das ist unser Auftrag." Und: "Gute Arbeit muss sich lohnen." All das ist richtig, kennt man aber von der SPD aus jeder Wahlkampfrede. Es war geradezu grotesk, dass Bas die SPD ermunterte, die Partei zu werden, die "wieder mutig eine klare Sprache spricht" und für "Visionen einer besseren Welt" eintritt.
Ihren Vertrauensbeweis kann Bas kaum nutzen
Die Basis dankte es ihr mit 95 Prozent Zustimmung. Ihr starkes Ergebnis kann sie - anders als Klingbeil - als echten Vertrauensbeweis deuten. Allerdings nützt ihr das nichts in der Öffentlichkeit. SPD-Vorsitzende im Ministeramt können nicht tun und lassen, was sie wollen. Wenn doch, dann brechen sie einen Koalitionsstreit vom Zaun und sorgen auch sonst für Verdruss. Klingbeil unterstützt die Idee der Sozialdemokratin, Beamte in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen zu lassen - ob das die Mitarbeiter im Finanzministerium und anderer SPD-geführter Ressorts erfreut und ihre Loyalität stärkt? Aber immerhin: Der Vorstoß ist mutig.
Denn es müssen nicht zwingend Visionen sein. Auch der Juso-Chef hat keine. Eine Partei nur (wieder) weiter nach links zu rücken und "Reiche zur Kasse bitten", wie er es möchte, hat mit einem prophetischen Zukunftsbild wenig bis nichts zu tun. Ein wesentlicher Fortschritt wäre schon, würde die SPD ihren Mangel an Pragmatismus beseitigen. Weite Teile der SPD hatten oder haben bis heute keine Ahnung, was Millionen Leute bewegt - und wenn doch, braucht die Partei zu lange, die nötigen Schlüsse zu ziehen. Das offenbarte sich besonders in der Flüchtlingspolitik im engeren und weiteren Sinn. Wie viele islamistisch motivierte Morde brauchte es, bis die SPD erkannte, dass es Schattenseiten der unbegrenzten Einwanderung gibt? Scholz rief die "Zeitenwende" aus, aber ließ Verteidigungsminister Boris Pistorius im Regen stehen.
Das Ergebnis: Die Wähler haben sich in Scharen von der SPD abgewandt. Aber zuvor hat sich die SPD von den Wählern entfremdet. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Was soll die SPD tun oder lassen in einem polarisierten Land, in dem Politik niemanden mehr glücklich machen kann? Was kann sie bieten, was mit den unerfüllbaren Versprechen der Linke und der AfD konkurrieren kann? Machen die Sozialdemokraten umsetzbare Vorschläge, werden ihr fehlende Visionen vorgehalten. Plant sie utopische Konzepte, wird ihr Realitätsverlust bescheinigt.
Auf dem Parteitag legten unzählige Redebeiträge Zeugnis von der Ratlosigkeit ab, in der sich die SPD bewegt. So bleibt ihr nichts weiter übrig, als den x-ten Neuanfang auszurufen, auch wenn die Erfahrung zeigt: Er allein wird nichts bringen.