Im Krieg gegen die Ukraine hat Russland seine Taktik geändert: Es geht darum, so viele Zivilisten wie möglich zu treffen. "Die Strategie der Russen besteht darin, durch die ständige Terrorisierung der einfachen Bürger die Nation zu schwächen", sagt der Leiter der Kiewer Militärverwaltung ntv.de.
Der Krieg ist wieder in Kiew angekommen: Die ukrainische Hauptstadt war seit der Befreiung der Kiewer Region im Frühjahr 2022 mit wenigen Unterbrechungen vergleichsweise sicher. Doch im Juni hat eine Reihe massiver kombinierter Angriffe das Vertrauen der Bewohner erschüttert: Dreimal wurde Kiew in diesem Monat zum Hauptziel der nächtlichen russischen Angriffe mit Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen.
"Im Juni erreichten 285 Drohnen und 65 Raketen Kiew. Darüber hinaus versuchte die Luftabwehr, viele Ziele im Fernanflug abzuschießen", teilt der Leiter der Kiewer Militärverwaltung, Tymur Tkachenko, auf Anfrage von ntv.de mit. Im Vergleich dazu habe es etwa im Januar deutlich weniger feindliche Ziele gegeben: "Konkret wurden 35 Drohnen und eine ballistische Rakete auf Kiew abgefeuert."
"Früher schien Kyjiw am besten geschützt zu sein - es hat ein paar Mal geknallt, das war's, man konnte sich schlafen legen. Aber jetzt gibt es so viele Angriffe, dass es wahrscheinlich besser ist, wegzuziehen in kleinere Städte", sagt Ivan Ryabokon. Der 25-Jährige und seine Mutter Halyna wohnen im Bezirk Schewtschenko. Ein Nachbarhaus wurde am Montag von einer Rakete getroffen. Neun Menschen kamen bei dem Angriff ums Leben, darunter ein Kind. Mit den Nachbarn stehen sie an der Absperrung. Man gibt sich gegenseitig Halt: "Die Menschen wohnen hier seit Jahrzehnten, sind hier aufgewachsen - man kennt einander."
"Während Bidens Amtszeit hatten wir die Patriots"
Erst in der Woche zuvor kostete ein Raketenangriff auf ein Wohnhaus 28 Menschen das Leben. Die Großstädter hatten kaum Zeit, die Bilder zu verdauen. Der Krieg ist auf einmal ganz nah: Ein Loch klaffte inmitten des Wohnhauses. Eine Rakete hatte alle neun Stockwerke dem Erdboden gleichgemacht. Das ganze Land bangte mit einem Paar, das stundenlang auf die Bergung ihres Sohnes wartete - nur um zu erfahren, dass er unter den Trümmern gestorben war. Die Bilder der aufgelösten Eltern gingen durch die Medien.
"Bevor Trump Präsident der USA wurde, habe ich mich wirklich sicherer gefühlt", meint Sportfotograf Dmytro Yevenko. "Während Bidens Amtszeit hatten wir die Patriots", also Raketenabwehrsysteme aus US-Produktion, "und wir konnten Raketen aus der Luft zerstören. Jetzt haben wir ein Problem, und Kiew wird auf jeden Fall zur gefährlichsten Stadt werden." Patriots hat die Ukraine noch immer, aber die Munition wird knapp. Was die USA jetzt noch liefern, wurde unter Biden beschlossen, neue Hilfen sind bisher nicht geplant. "Deswegen ist essenziell, dass die USA zumindest Raketen für Patriot über die Europäer verkaufen", sagt der ukrainische Militärexperte Oleksij Melnyk. "Die Einstellung der Lieferungen wäre zwar keine völlige Katastrophe, das Ergebnis wäre aber klar: noch viel mehr tote Zivilisten in der Ukraine."
Yevenko hatte Glück im Unglück: Es war sein Haus, in das die Rakete um vier Uhr morgens einschlug. Allerdings traf sei zwei Hauseingänge am anderen Ende des Fünfgeschossers. Er ist bei Freunden untergekommen und wartet darauf, ein paar Dinge aus dem einsturzgefährdeten Haus holen zu dürfen.
Russland schickt immer mehr Drohnen
Seine Nachbarin Lisaweta Korsinowa steht sichtlich unter Schock: "Gott hat mir das Leben gerettet." Die 23-Jährige übernachtete durch Zufall bei Freunden, als Russland die Ukraine am frühen Montagmorgen mit 358 Drohnen und ballistischen Raketen und Marschflugkörpern angriff. "Wir hörten Drohne um Drohne über unsere Köpfe hinwegfliegen." Das Ganze sei wie ein Fiebertraum gewesen. "Ich dachte erst, es seien Bilder aus meiner Heimatstadt Nikopol, die drei Kilometer von der Front entfernt ist, aber nein, es ist meine Wohnung hier."
Von ihrer Wohnung im ersten Stock ist nur noch ein Teil da. Der vordere Bereich liegt in Trümmern. Nackte Wohnzimmerwände erzählen von Familienleben, das hier ausgelöscht wurde. Szenen, die auf erschreckende Weise an die vorangegangene Woche erinnern. Wieder wartet ein Vater vergeblich auf erlösende Nachrichten: Seine Frau und seine elfjährige Tochter können nur noch tot geborgen werden. Eine schreckliche neue Routine bestimmt die lokalen Nachrichten.
28.743 Drohnen vom Typ Shahed hat Moskau seit Kriegsbeginn 2022 in Richtung der Ukraine gestartet - davon seien 2736 oder 9,5 Prozent allein im Juni 2025 abgefeuert worden, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Dienstag in einer Rede vor dem niederländischen Parlament. Selenskyj unterstrich, dass Russland die Drohnenangriffe nie ohne die Hilfe des Iran hätte vornehmen können und dass die Ukraine wiederum auf die Hilfe ihrer Partner bei der Luftabwehr angewiesen sei.
Russland hat seine Taktik geändert
Im Januar lag die durchschnittliche Anzahl der Geschosse aus Russland pro Nacht bei 100. Mittlerweile feuert Russland jede Nacht zwischen 300 und 500 Geschosse in Richtung Ukraine. Während Russland seine Drohnenproduktion hochgefahren und seine Angriffe ausgeweitet hat, ist die Abfangrate der ukrainischen Luftabwehr gesunken: Lag sie im Winter noch bei 95 Prozent, sind es jetzt nur noch 85 Prozent - mit verheerenden Folgen: "Leider nimmt die Zahl russischer Angriffe zu, und diese richten sich vor allem gegen die Bevölkerung", sagt Kyjiws Militärverwalter Tkachenko. Seit Anfang Juni seien in Kiew 42 Menschen getötet worden, darunter das erwähnte elfjährige Mädchen. 234 Menschen wurden verletzt, darunter elf Kinder.
Doch es ist nicht allein die Anzahl der Geschosse, die die Luftabwehr überwältigen sollen. Russland hat seine Taktik geändert, um auf perfide Weise mehr Opfer herbeizuführen: "Selbst in kleinen Städten haben sie ihre Taktik geändert", meint Halyna Ryabokon. "Statt verschiedene Städte anzugreifen, umkreisen sie eine kleine Stadt und feuern alle Drohnen ab." Zeitgleich mit dem Angriff auf ihr Viertel traf es Bila Tserkwa, eine Kleinstadt bei Kiew. "Oder sie machen eine kleine Pause nach den Drohnenschwärmen. Und sobald der Luftalarm erlischt und sich die Menschen in Sicherheit wähnen, feuern sie Raketen ab."
So geschehen am Montag in ihrem Bezirk Schewtschenko: "Der Luftalarm war gerade vorbei. Die Menschen hatten gerade den Schutzraum im unterirdischen Parkplatz gegenüber verlassen", sagt Ryabokon. "Ich hatte mich wieder schlafen gelegt." Da ertönte der Alarm erneut - Raketenalarm. "Das bedeutet, es bleiben nur wenige Minuten. Man hat keine Zeit, um in den Schutzraum zu gehen. Wenn ich gerannt wäre, hätte mich diese Rakete erwischt und die Druckwelle hätte mich getroffen. Wir wissen nicht, wohin wir gehen sollen, um Schutz zu suchen."
Selbst Streumunition setzt Russland gegen Zivilisten ein
Auch Streumunition kam im Juni zum Einsatz. In diesem Jahr habe der Einsatz des international geächteten Waffensystems durch Russland systematische Ausmaße angenommen, sagt der Leiter der Kiewer Militärverwaltung. "Im Frühjahr registrierten wir erstmals sogenannte längliche Submunitionen, die von feindlichen Drohnen abgefeuert werden. Sie explodieren einige Zeit, nachdem das feindliche Ziel abgeworfen oder abgeschossen wurde, und können Zivilisten und Rettungskräfte verletzen."
Rettungskräfte und Zivilisten müssen aber auch die sogenannten "Double Tap"-Angriffe fürchten: Anfang Juni kamen dabei drei Einsatzkräfte des staatlichen Notdienstes DSNS ums Leben: Sie rückten an, um einen Brand im Bezirk Schuljawka zu löschen, als eine weitere Drohne den Einsatzort traf. "Das ist so böse. Sie sind einfach keine Menschen", meint Halyna Ryabokon.
An einer Absperrung steht am Montagnachmittag Valentyna Osiadach mit ihrer Tochter Emilia. Die Vierjährige hat die ganze Nacht nach ihrer besten Freundin im Nachbarhaus gefragt. Zu Kriegsbeginn waren Valentyna und Emilia ins Ausland geflohen. "Aber letzten Sommer habe ich beschlossen, zurückzukommen, weil mein Land hier ist. Man möchte zu Hause sein. Jetzt hinterfrage ich meine Entscheidung", sagt die Mutter. "Jeden Abend gehen wir runter zum Parkplatz. Wir haben Campingausrüstung dabei, damit die Kinder dort schlafen können. Aber seit den letzten Angriffen hat sich etwas geändert. Es ist nicht mehr so sicher."
"Das werden sie nicht schaffen"
Kiews Militärverwalter Tkachenko zufolge verfolgt Russlands jüngste Angriffswelle keine militärischen Ziele: "Der Feind interessiert sich nicht besonders für konventionelle militärische Ziele, nicht einmal für kritische Infrastruktur. Die Strategie der Russen besteht darin, durch die ständige Terrorisierung der einfachen Bürger die Nation zu schwächen." Für die Psychologin Lyubov Kirnos vom DSNS und ihre Kollegen bedeutet der Terror vor allem eines: dass sie mit der Zeit mehr und mehr lernen musste, Distanz zu gewinnen. 120 Menschen betreute sie allein am Montag mit einer Kollegin von vier Uhr morgens bis spät am Nachmittag. Darunter die 25-jährige Schwester des getöteten elfjährigen Mädchens und Menschen, die die Leichen ihrer Verwandten identifizieren mussten. "Es ist schade, dass wir keinen Zauberstab haben - ich denke oft darüber nach -, der die Seelen der Menschen heilen könnte."
Zusammen mit den Kollegen sieht sie täglich hautnah, was Russlands Terror für die Betroffenen bedeutet und wie er zunimmt. Ans Aufgeben denkt Kirnos nicht: Während US-Präsident Donald Trump am Mittwoch auf einer Pressekonferenz beim Nato-Gipfel verkündet, er werde überlegen, ob man die Ukraine bei der Luftabwehr unterstützen könne, glaubt sie an die Widerstandskraft der Ukrainer: "Die Russen wollen, dass wir uns ergeben. Sie tun alles, um uns den Glauben zu nehmen, aber das werden sie nicht schaffen."