Anderthalb Jahre in Erstaufnahme? Da entfährt Merkel ein "oh je"

Die Alt-Kanzlerin spricht in einer WDR-Sendung mit bestens integrierten Einwanderern über "Wir schaffen das". Das Thema Islamismus bleibt dabei ausgeklammert. Trotzdem ist es keine reine Kuschelveranstaltung. Mitunter wird die Altkanzlerin mit den Folgen ihrer Politik konfrontiert.

Schon das PR-Gedöns des WDR konnte den Verdacht nähren, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk mal wieder ein Eigentor schießt, wenn er Angela Merkel mit Flüchtlingen über "Wir schaffen das" reden lässt. "Die ehemalige Bundeskanzlerin hatte exklusiv dem ausführlichen Gespräch mit 'WDRforyou' zugesagt", hieß es in der Pressemitteilung. Exklusiv! Das klang toll, bedeutete aber im Kern: nichts. Es ist logisch, dass die Christdemokratin die Chance beim Schopfe packt, ihr Image als deutsche Mutti Teresa zu festigen und deshalb nicht in der BR-Sendung "Klar" mit Julia Ruhs oder bei "Welt TV" mit Springer-Zögling Ulf Poschardt diskutiert.

So kam es, wie es kommen musste: Der Islamismus wurde bei dem Treffen nicht thematisiert. Merkels Botschaft lautete: Ich habe alles richtig gemacht. Und dennoch kann nicht von einer Kuschelveranstaltung gesprochen werden, im Gegenteil wurde die Altkanzlerin - unerwartet und vielleicht ungewollt - mit den Folgen ihrer Politik konfrontiert. Das lag weitgehend an Moderator Bamdad Esmaili, der vor 40 Jahren mit seiner Familie aus Iran nach Deutschland geflohen war. Er stellte immer wieder die richtigen Fragen, während sein junger Kollege Borhan Akid, der 2015 aus Syrien in die Bundesrepublik kam und hervorragendes Deutsch spricht, in Ehrfurcht vor der Ex-Kanzlerin fast erstarrte. "Frau Merkel steht hier neben mir", sagte er. Dabei saß sie zwei Meter hinter ihm lächelnd am Tisch.

Mit Merkel am Tisch: ein Masseur, eine Zahnarzthelferin...

Und auch der generelle Ansatz der Sendung war richtig, den die Altkanzlerin so formulierte: "Wir sprechen ja oft über Menschen, die zu uns kamen, aber vielleicht nicht oft genug mit Menschen, die zu uns kamen." Gerade sie sollte das immer und immer wieder tun; und man wünscht sich, dass sie das bald in Berlin-Neukölln und Duisburg-Marxloh tut. Aber da fängt es auch schon an - oder hört es auf. Denn um miteinander im deutschen TV zu reden, muss man dieselbe Sprache beherrschen, was heißt, dass für so ein Format nur gut integrierte Einwanderer infrage kommen. So war es denn auch. Am Tisch mit Merkel saßen ein aus Syrien stammender Masseur, eine Syrerin, die bei der Handwerkskammer in Frechen arbeitet, eine afghanische Studentin der Medieninformatik und ein Paar aus Iran, sie Zahnarzthelferin, er Mitarbeiter eines Zuliefererwerks für Flugzeughersteller.

Die Unterhaltung zeigte: Nicht "wir" haben "das" geschafft, sondern die, die wollen, schaffen es. Die mitwirkenden Migranten legten glaubwürdige und teils emotional aufgeladene Bekenntnisse zu Deutschland als (eine) neue Heimat ab. Wer das mehr als einstündige Treffen verfolgte, konnte ihnen nur Respekt für ihre Leistung und ihren Willen zur Integration zollen und sollte - bei aller berechtigten Kritik an Merkels Handeln von damals - wenigstens darüber nachdenken, ob Einwanderung, selbst die unkontrollierte von 2015 und 2016, nicht doch auch ihre guten Seiten hat. Das heißt ja nicht, dass damit die dunklen Seiten verschwinden und ignoriert werden können.

Einmal wandte sich Merkel überaus deutlich gegen den Versuch, von Asylbewerbern verübte Verbrechen durch eine angebliche Mitschuld des Staates zu beschönigen. Moderator Akid griff die in der politischen Linken grassierende These auf, dass aus "nicht behandelten" Menschen mit psychischen Problemen und Traumata "Straftäter geworden" seien, die "schlimme Dinge" getan hätten, und stellte die Frage: "Welche Verantwortung trägt dann der Staat, wenn er Schutz verspricht, aber bei dieser Betreuungsfrage seine Aufgabe nicht ganz erfüllt?" Merkel räumte das sofort ab: "Da muss ich sehr hart sagen: Das ist keine Rechtfertigung, eine Straftat zu begehen."

Als die aus Afghanistan stammende Narges Tavakolli ihre Geschichte erzählte, entfuhr der Exkanzlerin ein "oh je". Die Studentin berichtete, wie sie in Berlin mit ihren Eltern und drei Geschwistern erst anderthalb Jahre in einem Übergangslager im Gebäude des ehemaligen Flughafens Tempelhof, danach in einer kleinen Wohnung in Marzahn und dann in einer Bleibe der Caritas gelebt und ihr Abitur abgelegt habe. "Man kommt in Deutschland an, das Zentrum von Europa, aber irgendwie landet man in einer Riesenunterkunft", erzählte die freundliche junge Frau. Sieben Jahre brauchte die Familie, um eine eigene Wohnung zu finden, die mehr als ein Provisorium war. Ihr Bericht wollte so gar nicht zu "Wir schaffen das" passen. "Das ist hart", sagte Merkel.

Keiner sollte "die Nerven verlieren"

Bamdad Esmaili verwies darauf, dass "viele" Leute hierzulande fragten, wie man eine solch hohe Zahl an Menschen in ein Land lassen könne, ohne genügend Wohnraum zu haben. "Tja", begann Merkel ihre Antwort und erklärte, in der "Notsituation" sei es unmöglich gewesen, Wohnungen zu zählen und dann zu erklären: "Nun haben wir keine, deshalb lassen wir niemanden rein." Daher habe sie in jenen Wochen und Monaten "permanent" mit Landräten und Bürgermeistern gesprochen und ihnen unter Verweis auf die Dublin-Regeln gesagt, "sie müssen gucken", dass sowohl "die Leute, die schon sehr lange dort wohnen" als auch die Flüchtlinge "nicht die Nerven verlieren".

Der Moderator gab Tavakolli die Chance zu erklären, was sie an Merkels Kurs von damals kritisch sehe. Der Studentin war anzumerken, dass ihr das nicht leicht fiel. Schließlich sagte sie, man hätte "vielleicht" weniger bürokratisch Wohnraum für die Neuankömmlinge schaffen sollen - was, mit Verlaub, nicht wirklich für größere Kenntnisse des Landes und der Lage sprach und durchaus auch als fragwürdige Erwartungshaltung gedeutet werden konnte. Merkel lächelte und sagte: "Es war eine schwierige Situation." Danach erkundigte sie sich nach Tavakollis Geschwistern und Eltern. Alle hätten Abschlüsse geschafft, der Vater sei "selbstständig", die Mutter habe eine Ausbildung zur Mechatronikerin geschafft. "Toll", sagte Merkel und dürfte damit vielen Zuschauern aus der Seele gesprochen haben. "Glückwunsch!"

Die strikte Einhaltung der Dublin-Regeln beschrieb die Christdemokratin mehrfach als Richtschnur ihrer Entscheidungen 2015. Tavakolli berichtete: "Wir waren erst mal in Norwegen." Das skandinavische Land lehnte den Asylantrag der Familie ab. Sie ging anschließend nach Deutschland. Norwegen ist kein EU-Staat, aber dem Dublin-Abkommen beigetreten. Um in der Bundesrepublik einen neuen Antrag stellen zu können, mussten daher sechs Monate vergehen, die Tavakolli, ihre Geschwister und Eltern in Kirchenasyl verbrachten, um der Abschiebung zu entgehen. Insofern lieferte der WDR den lebenden Beweis für die These: Wer einmal hier ist, bleibt auch hier. Kurz vor dem Schluss des Gesprächs sagte Merkel in anderem Zusammenhang den erstaunlichen Satz: "Wozu gibt es ein Verfahren, bin ich anerkannt oder bin ich nicht anerkannt, wenn zum Schluss doch jeder einfach bleibt."

Bamdad Esmaili war es auch, der die Exkanzlerin fragte: "Hat Ihre Politik die AfD stark gemacht?" Merkel holte weit aus, stellte fest, dass die Partei "mit der Zeit der Flüchtlinge stärker wurde". Sie räumte ein, als Folge des Drucks "in gewisser Weise" ihre Politik geändert zu haben, wie das "Abkommen mit der Türkei" zeige. "Ich brauchte dafür natürlich etwas Zeit. Und diese Zeit, die habe ich mir genommen. Und in dieser Zeit hat die AfD gehetzt." Merkel weiter: "Trotzdem kann ich ja von meinen Werten nicht abgehen." Und: "Als ich aus dem Amt gegangen bin, lag die AfD bei elf Prozent, heute ist sie nochmal verdoppelt." Soll heißen: Ich trage keine Verantwortung für den Auftrieb der in Teilen rechtsextremen Partei.