Darum führt Israel jetzt diesen Krieg

Massive Vormärsche in Gaza, noch immer Angst um Hamas-Geiseln und nun beginnt Israel auch noch einen Krieg gegen den Iran. Von allen guten Geistern verlassen? Oder kühl und kühn kalkuliert?

Mit Attacken von 200 Kampfjets begannen die Israelis einen Krieg, von dem niemand vorhersagen kann, was er auslösen wird. Ein neues Kräfteverhältnis in Nahost mit gebändigten Mullahs? Einen Flächenbrand? Fest steht: Es handelt sich bei dem massiven israelischen Angriff um einen "präemptiven" Militärschlag, so nennt es der Militärexperte und österreichische Oberst Matthias Wasinger bei ntv.de. Präemptiv ist eine Maßnahme, die noch vor einem präventiven Handlungsakt durchgeführt wird. Der würde dann gar nicht mehr notwendig, weil die Gefahr gebannt ist. Wo aber liegt konkret der Unterschied?

Der Iran auf dem Weg zur Atombombe

Bezogen auf die Lage zwischen Israel und Iran hätte das Szenario eines präventiven Militärschlags in etwa so aussehen können: Der israelische Geheimdienst Mossad hat Quellen, die übereinstimmend aussagen, dass ein massiver Angriff der Mullahs auf Israel unmittelbar bevorsteht. Die israelische Regierung kommt dem zuvor, indem sie Mensch und Material der Iranischen Revolutionsgarden attackieren lässt, sie kurzfristig handlungsunfähig macht. Das wäre ein Präventivschlag. Durchgeführt, um unmittelbare Gefahr abzuwenden, und im Regelfall vom Völkerrecht gedeckt.

Am Freitag hat Israel den Iran angegriffen, ohne der Weltöffentlichkeit Erkenntnisse über einen bevorstehenden iranischen Angriff zu liefern. Stattdessen geht es darum, die Ambitionen der Mullahs zu torpedieren, zur zehnten Atommacht der Welt zu werden. Ein präemptiver Schlag ohne akute Bedrohung ist im Regelfall vom Völkerrecht nicht gedeckt. In Israel sieht man diesen Angriff dennoch als gerechtfertigt an. Denn präventiv erschiene den meisten schlicht zu spät.

Laut dem Institute for Science and International Security (ISIS) in Washington hat Teheran in den vergangenen Jahren auf dem Weg zur eigenen Atombombe markante Fortschritte gemacht.

Für die Herstellung einer Atomwaffe ist es notwendig, Uran mit dem spaltbaren Isotop Uran-235 anzureichern. Der Anteil des Isotops in normalem Uran liegt bei nur 0,7 Prozent, waffenfähig wird Uran mit 90 Prozent. Hunderte hochmoderne Zentrifugen werden eingesetzt, um Uran-235 zu gewinnen und das natürliche Uran damit anzureichern. Laut Internationaler Atomenergiebehörde IAEO besitzt der Iran inzwischen fast 275 Kilogramm Uran, das bereits zu 60 Prozent angereichert ist. "Iran ist der einzige Nichtatomwaffenstaat, der Nuklearmaterial in diesem Ausmaß produziert", analysiert die deutsche Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Zugleich stellen sich die Mullahs quer in sämtlichen Fragen internationaler Forschungskontrolle und -beschränkung. Moderiert von Oman sollte an diesem Wochenende die sechste Runde der Atomverhandlungen zwischen dem Iran und den USA beginnen. Oman hat sie abgesagt. Fünf Runden wurden zuvor schon ohne Ergebnis beendet. Nicht nur die SWP sieht mit Blick auf das iranische Atomprogramm "Anlass zur Sorge".

Denn der Schritt von 60 auf die nötigen 90 Prozent ist ein vergleichsweise kleiner, wenn man die technischen Voraussetzungen dafür bereits geschaffen hat. "Unseren Einschätzungen nach könnte der Iran innerhalb von einer Woche genügend waffenfähiges Uran für eine Atombombe anreichern und nach einem Monat genug waffenfähiges Uran haben für elf Atomwaffen", sagte Sarah Burkhard, Nuklear-Expertin bei ISIS, jüngst in Berlin.

Genug Material heißt nicht, dass die Waffe im Prinzip fertig ist. Das waffenfähige Uran müsste zunächst in Metallform überführt und in eine Waffe integriert werden, die dann auch noch an ein Trägersystem, etwa eine Rakete, zu montieren wäre. Bei der Waffenentwicklung hat der Iran schon starke Fortschritte gemacht, etwa "durch die Herstellung hochexplosiver Zündsysteme", so Burkhard. Diese sind für die Funktionsfähigkeit einer Atomwaffe von entscheidender Bedeutung.

Nach ihrer Schätzung könnte der Iran "innerhalb von maximal sechs Monaten die restlichen Schritte meistern", wenn die Waffe noch nicht an ein iranisches Trägersystem passen müsste. Dieser Schritt würde länger dauern, insgesamt schätzen viele Experten die nötige Zeit für den Prozess auf zwei Jahre.

Zwei Jahre, um Tel Aviv auslöschen zu können

Eine Woche für genügend waffenfähiges Uran, sechs Monate für die Entwicklung der Waffe, zwei Jahre bis zur Fähigkeit, mit einer Atomrakete Tel Aviv auszulöschen. Deshalb ist die israelische Perspektive insbesondere auf nukleare Fähigkeiten des Iran eine gänzlich andere als die jedes anderen Staates. Und: Israel hat die zweifelhafte Ehre, in einer iranischen Staatsdoktrin Erwähnung zu finden. Als "Krebsgeschwür", das auf ewig beseitigt werden müsse. Das macht was mit den Israelis.

Die Mullahs in Teheran lassen daran keinen Zweifel: Sie wären zu allem bereit, um den Staat Israel samt aller Bewohner unter einer riesigen Rauchwolke verschwinden zu lassen. Lieber gestern als heute. Atompilz? Noch besser. Bis es soweit ist, lässt der Iran regelmäßig Raketen mittels seiner Handlanger, der libanesischen Hisbollah und der Huthi im Jemen, auf Israel abfeuern.

Mit dieser besonderen Bedrohungslage Israels durch den Iran ist es zu erklären, dass die israelische Bevölkerung den aggressiven Kurs ihrer in Teilen rechtsextremen Regierung unter dem von vielen verhassten Premier Benjamin Netanjahu in überwiegender Mehrheit unterstützt. Trotz des noch immer andauernden Gazakriegs. Trotz der noch immer in der Gewalt der Hamas leidenden Geiseln. Trotz des erheblichen Risikos für die Bevölkerung. Seit Freitag prasseln in immer neuen Wellen Drohnen und Raketen aus dem Iran auf das Land herunter, die selbst das israelische Luftverteidigungssystem punktuell überfordern und dann einschlagen. Die Leidensbereitschaft ist da, doch wird sie bei den vielen noch immer vom Hamas-Massaker Traumatisierten auch über Wochen und Monate anhalten? Was kann Netanjahu seinem Land zumuten?

Neben der israelischen Einschätzung, präemptiv handeln zu müssen angesichts der fortgeschrittenen nuklearen Fähigkeiten eines Regimes, das das eigene Land zum Erzfeind erklärt hat, gibt es einen weiteren etwas weniger dramatischen Faktor, der in Israel viele Menschen überzeugt: Die Gelegenheit ist günstig.

Dem Iran fehlen die Vollstrecker

Die günstige Gelegenheit hat in erster Linie der israelische Geheimdienst Mossad geschaffen, indem er im vergangenen September mit einer großangelegten, akribisch vorbereiteten Attacke über präparierte Pager einen Großteil der Führungsschicht der libanesischen Hisbollah tötete. Deren deutliche Schwächung begünstigte nur drei Monate später den Sturz des Diktators Baschar al-Assad im Nachbarstaat Syrien. Weder die Hisbollah noch der Iran kamen Assad beim Verlust der Macht nennenswert zu Hilfe. Die Hamas in Gaza ist noch immer und derzeit stärker denn je aus Israel unter Druck.

So fehlen dem unter westlichen Sanktionen leidenden und auch wirtschaftlich schwachen Iran drei bislang willige Vollstrecker an der Seite, die auf Israel in einer Massivität militärisch bedrängen könnten, die das Mullah-Regime allein, so wie es aussieht, derzeit nicht zu erreichen vermag. Eine Schwäche, die für Israel einerseits von Vorteil ist, andererseits aber auch eine Gefahr birgt.

Je schwächer die Mullahs auf der konventionellen Ebene von Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern sind, desto stärker wird ihr Impuls sein, die fehlende Kraft auf der nuklearen Ebene herzustellen, sprich: die Entwicklung einer eigenen Atomwaffe voranzutreiben.

So erscheint der Iran also vielen Israelis derzeit in einer Lage, die nicht nur günstig ist, um das Regime massiv anzugreifen, sondern die einen Präemptivangriff auch noch weit dringender macht, um die iranische Atomwaffe zu verhindern. Die Treffer auf die Atomanlagen haben der iranischen Atomwissenschaft und Waffenentwicklung bislang schon stark geschadet, so bilanziert es die IAEO.

Die Drohung werden die Israelis nicht tilgen

Experten lassen allerdings auch keinen Zweifel daran, dass die teils in 60 Meter Tiefe befindlichen Entwicklungslabore mit Raketen aus israelischem Arsenal nicht zu zerstören sind. Es fehlt ihnen die bunkerbrechende Durchschlagskraft. So mögen die israelischen Streitkräfte derzeit überlegen wirken im Vergleich mit der iranischen Antwort - die nukleare Drohung gegen ihr Land werden sie nicht beseitigen können. Den Entwicklungsprozess der Atombombe ausbremsen - das wohl allemal.

"Nur durch inneren Druck auf das Regime lässt sich auch das Staatsziel des Iran abschaffen, Israel zu vernichten", schätzt Nahostexperte Wasinger. "Dieses Ziel muss man loswerden." Solange die Mullahs in Teheran die Macht innehaben, wird die Drohkulisse bleiben.

Vor drei Jahren stellte sich ein beachtlicher Teil der Bevölkerung in Protestzügen den autoritären Mullahs und ihrer Sittenpolizei in den Weg, kämpfte auf der Straße für Freiheit und Selbstbestimmung. Doch zahlreiche Festnahmen, Scheinprozesse, Hinrichtungen ließen den Protest verenden.

Parallel zu den Luftangriffen wendet sich Israels Premier darum direkt an das iranische Volk, ruft es zur Auflehnung gegen das Regime auf. Ein solcher Aufstand im Iran wäre in seinen Auswirkungen nicht vorhersehbar. Libyen, auch der Iran selbst Ende der 70er geben tragische Beispiele für Regimewechsel ab, die nicht zum Besseren führten. Doch für Israel bleibt er die einzige Chance auf Frieden mit dem Gegner.