Wenn mehr Gerichte entscheiden wie kürzlich das Berliner Verwaltungsgericht, "dann wird es deutlich schwieriger für die Bundesregierung, ihre Politik der Zurückweisungen aufrechtzuerhalten", sagt Migrationsexperte Raphael Bossong. Die Berliner Richter hatten drei Schutzsuchenden aus Somalia recht gegeben, die sich gegen ihre Zurückweisung gewehrt hatten.
Für Bundesinnenminister Alexander Dobrindt war die Entscheidung eine Niederlage, denn er hatte Zurückweisungen auch von Asylsuchenden angeordnet. Trotz des Urteils will die Bundesregierung an dieser Linie festhalten. Das ist möglich, weil das Verwaltungsgericht Berlin nur über diese drei Einzelfälle entschied. Es könnte sein, dass Dobrindt auf Zeit spielt, erläutert Experte Bossong im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Kam das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts für Sie überraschend?
Raphael Bossong: Grundsätzlich war abzusehen, dass es solche Urteile geben würde. Aber in der Schnelligkeit und in der Deutlichkeit, mit der das Gericht die Begründung der Bundesregierung zurückgewiesen hat, war das schon überraschend.
Bundesinnenminister Alexander Dobrindt sagte nach der Entscheidung, er gehe davon aus, dass die Bundesregierung im sogenannten Hauptsacheverfahren "deutlich" Recht bekommen werde. In der Eilentscheidung heißt es aber, die Zurückweisung der drei klagenden Somalier werde sich im Hauptsacheverfahren "mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als rechtswidrig erweisen", mit anderen Worten: Dobrindt wird erneut unterliegen. Kann es sein, dass er einfach auf Zeit spielt?
Ich glaube, da gibt es zwei mögliche Erklärungen. Die eine ist genau diese Idee: dass die Bundesregierung auf Zeit spielt. Davon war ja auch im Vorfeld häufiger die Rede - ein Rechtsstreit würde bis zum Europäischen Gerichtshof gehen, und bis das passiert, hätte die Bundesregierung Zeit, um politische Veränderungen herbeizuführen. Aber dieses Vorgehen war immer schon zweifelhaft.
Und die andere Erklärung für das Vorgehen von Dobrindt?
Es gibt durchaus Juristen, die meinen, die Zurückweisungen seien zu rechtfertigen.
Der ehemalige Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier beispielsweise sagte, er halte Zurückweisungen an den deutschen Grenzen für "ohne Weiteres zulässig".
Das war eine Minderheitsmeinung. Durch den Beschluss des Berliner Verwaltungsgerichts ist sie noch stärker unter Druck geraten.
Wie viel Zeit hätte Dobrindt denn, wenn er auf Zeit spielen sollte?
Das kann man nicht sagen, das hängt von mehreren Faktoren ab. Unter anderem davon, ob ein Gericht einen Fall dem Europäischen Gerichtshof vorlegt. Und dann hängt es davon ab, wie schnell der Europäische Gerichtshof entscheidet. Als Faustregel könnte man sagen, dass das durchaus zwei Jahre dauern kann. Aber da gibt es viele Variablen. Bislang ist nicht einmal klar, ob der EuGH überhaupt von einem nationalen Gericht angerufen wird. Denn es gab in der Vergangenheit schon Urteile des Europäischen Gerichtshofs zum Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).
Das ist der Artikel, den Dobrindt unter anderem als Basis für die Zurückweisungen nutzt. Dieser Artikel erlaubt es EU-Staaten, in Ausnahmefällen von Europarecht abzuweichen - die sogenannte "Notlagenklausel".
Und in früheren Urteilen hat der EuGH bereits dargelegt, dass Mitgliedstaaten Artikel 72 nicht einfach so nutzen können, sondern dass die Schwelle durchaus hoch ist. Deshalb hat das Berliner Verwaltungsgericht auch keine Notwendigkeit gesehen, die Fälle der drei Somalier dem EuGH vorzulegen. Aus Sicht des Berliner Gerichts ist das längst entschieden: Sie schreiben in ihrer Entscheidung, dass sich aus Artikel 72 nicht ableiten lässt, dass "jede Maßnahme, die im Interesse der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit getroffen wird, vom Anwendungsbereich des Unionsrechts" ausgenommen werden kann.
Artikel 72 ist als Rechtsgrundlage also längst nicht so stabil, wie Dobrindt tut.
Ja. Der Artikel ist ohnehin umstritten - und wie umstritten er ist, wird man an den noch folgenden Gerichtsverfahren sehen. Das Berliner Verwaltungsgericht hat gesagt: Nein, Artikel 72 ist hier nicht anzuwenden. So dezidiert hätte ich das nicht erwartet. Ein anderes Gericht kann das aber anders sehen und doch zum EuGH gehen. Nur: Wenn jetzt mehr Gerichte im Sinne des Berliner Verwaltungsgerichts entscheiden, dann steigt der Druck auf Dobrindt sehr viel schneller als erwartet. Dann wird es deutlich schwieriger für die Bundesregierung, ihre Politik der Zurückweisungen aufrechtzuerhalten.
Wie viel Spielraum haben nationale Regierungen in der EU überhaupt, um solche Maßnahmen umzusetzen?
Das ist komplex, da gilt es zwei Fragen zu unterscheiden. Die eine lautet: Wann dürfen wir Kontrollen an den europäischen Binnengrenzen durchführen? Die andere: Wen und wie dürfen wir zurückweisen? Die Frage der Binnengrenzkontrollen ist im Schengener Kodex geregelt. Aus meiner Sicht sind die Binnengrenzkontrollen, so wie Deutschland sie durchführt, europarechtlich nicht mehr gedeckt. Aber darüber kann man streiten.
Grundsätzlich lässt EU-Recht doch Binnengrenzkontrollen zu.
Ja, aber sie müssen gut begründet sein und sie sind nur für einen begrenzten Zeitraum möglich. Sowohl bei der Dauer - Kontrollen bestehen in der ein oder anderen Form schon seit 2015/16 - als auch bei der Begründung wird Deutschland den rechtlichen Vorgaben meiner Meinung nach nicht gerecht.
Und wen und wie dürfen wir zurückweisen?
EU-rechtlich gilt eigentlich: Wir dürfen Menschen, die ein Asylbegehren vorbringen, nicht zurückweisen, ohne eine Dublin-Prüfung gemacht zu haben. Das heißt konkret: Deutschland muss feststellen, welcher Staat für das Asylverfahren zuständig ist. Das kann oftmals, muss aber nicht, der Staat sein, in dem ein Asylbewerber erstmals den Boden der EU betreten hat. Wenn jemand zum Beispiel an der deutsch-österreichischen Grenze erscheint, dann bedeutet das nicht automatisch, dass Österreich wegen der Durchreise für den Asylantrag zuständig ist. Es könnte beispielsweise auch Italien als Ersteinreiseland sein. Oder vielleicht die Niederlande, wenn vielleicht dort bereits ein Elternteil oder Ehegatte rechtmäßig lebt. Es kann also kompliziert sein.
Deshalb wollte die Bundesregierung die Dublin-Prüfungen möglichst nicht mehr durchführen…
… sondern direkt zurückweisen. Denn in der Praxis dauern diese Verfahren ziemlich lang und führen nur in einer Minderheit der Fälle zur Übergabe an einen anderen Staat - sodass das Asylverfahren am Ende doch häufig in Deutschland stattfindet, unter anderem weil die eigentlich zuständigen Staaten sich verweigern, Fristen verschleppen oder weil sich die betroffenen Personen Rechtsmittel einlegen. Das Berliner Verwaltungsgericht hat dennoch entschieden, wie es auch fast alle juristischen Kommentare und der EuGH in anderen Asylrechtsfällen sehen: Aus dieser Verpflichtung kommt Deutschland nicht offiziell raus, Deutschland kann also nicht offen EU-Recht außer Kraft setzen, selbst wenn es durch andere EU-Staaten nur sehr mangelhaft umgesetzt wird.
Nächstes Jahr gibt es dann mit dem neuen Pakt für Migration und Asyl neue Regeln, um festzustellen, welcher Staat wie genau durch Migration belastet ist, um die Solidarität in der EU besser zu organisieren. Ob das klappt, muss man abwarten.
Wird das den Spielraum der nationalen Regierungen weiter einengen?
Ja, aber das ist im Interesse Deutschlands. Wir wollen ja, dass sich alle EU-Staaten stärker als bisher an das geltende Recht halten. Hier liegt das Dilemma der Bundesregierung: Einerseits will sie mit den Grenzkontrollen den Druck auf die Nachbarstaaten erhöhen. Andererseits hat Deutschland immer darauf gesetzt, das EU-Recht zu verschärfen und mehr Staaten dazu zu bringen, ihre Verpflichtungen einzuhalten. Das heißt im Umkehrschluss für uns: Wir müssen uns selbst auch daran halten. Das ist die Zwickmühle, in der sich die Bundesregierung befindet.
Am Donnerstag teilte die Bundespolizei mit, seit der Verschärfung der Grenzkontrollen vor vier Wochen seien 3279 Personen zurückgewiesen worden. Ist das eine relevante Zahl?
Die Zahlen sind höher als in der Vergangenheit, aber über das Gesamtgeschehen sagen sie wenig aus. Wir wissen nicht, wie viele von den Zurückgewiesenen es noch mal an anderer Stelle versuchen. Das heißt nicht, dass die Kontrollen komplett sinnlos sind. Die Politik sagt, dass es darum geht, ein politisches Signal zu senden - an andere europäische Staaten und an die Schutzsuchenden. Aber ob dieses Signal ankommt, wie es interpretiert wird, ob es einen messbaren Abschreckungseffekt gibt, das kann keiner belastbar sagen.
Die Bundesregierung betont immer, dass die Zurückweisungen nur ein Baustein sind. Künftig sollen mehr Staaten als sichere Herkunftsländer eingestuft werden - was bringt das?
Die Zurückweisungen können tatsächlich nur eine von vielen Maßnahmen sein, wenn es darum geht, die Zahl der Schutzsuchenden in Deutschland zu senken. Das gilt auch für die Einstufung von Staaten als sichere Herkunftsländer. Wie alles in der Migrationspolitik ist auch diese Maßnahme umstritten - zumal der Beschluss ohne Zustimmung des Bundesrats gefasst werden soll. Aber ja, das kann einen wahrscheinlich größeren Effekt erzeugen als die Zurückweisungen. Konkret bedeutet es, dass eine Person aus einem sicheren Herkunftsland in einem Asylverfahren eine höhere Beweislast hat. Für die Behörden ist es dann leichter, den Antrag abzulehnen. Das kann man unfair finden. Aber wenn man die Migrationspolitik restriktiv handhaben will, kann das durchaus etwas bringen.
Menschen, die von Abschiebungshaft oder Ausreisegewahrsam betroffen sind, sollen künftig keinen Pflichtverteidiger mehr bekommen. Was halten Sie davon?
Auch das ist politisch sehr umstritten. Die Regelung war erst unter der letzten Bundesregierung eingeführt worden, mit der Begründung, dass viele der Entscheidungen nach rechtlichen Anfechtungen zurückgenommen werden. Das Argument war, dass offenbar häufig eine fehlerhafte Entscheidung vorlag. Wenn das nun wieder einkassiert wird, kann man argumentieren: Vorher war Deutschland auch kein Unrechtsstaat. Es gibt tatsächlich Taktiken der Verschleppung, wir wollen die Akzeptanz für Rückführungen in der Bevölkerung erhöhen und es gibt auch so noch Rechtsmittel. Ja, es wird wieder mehr Fehlentscheidungen geben. Aber man kann diese Maßnahme vertreten, würde ich sagen.
Mit Raphael Bossong sprach Hubertus Volmer